Der Friedhof Ohlsdorf ist Hamburgs größter Park und lockt zu jeder Jahreszeit Trauernde und Touristen, Spaziergänger und Naturfreunde an.

Es sind nur zwei Sätze, aber sie haben eine enorme Wucht. "Ich bin nicht tot, ich tausche nur die Räume. Ich leb in Euch und geh durch Eure Träume." Dieses Zitat von Michelangelo auf einem Grabstein auf dem Friedhof Ohlsdorf drückt genau das Gefühl aus, das sich einstellt, wenn man mit Menschen spricht, die in dieser "Stadt in der Stadt" arbeiten. Sie tun das gerne. Und sie haben, das begreift man schnell, ein sehr natürliches Verhältnis zum Tod. Denn sie haben täglich mit ihm zu tun. Und er verliert hier auch deshalb viel von seinem Schrecken, weil die wundervolle Landschaft auf dem mit knapp 400 Hektar größten Parkfriedhof der Welt jeden Besucher schlagartig zur Ruhe kommen lässt. Sobald man von der lauten Fuhlsbüttler Straße in Hamburgs weitläufigsten Park kommt, der zu jeder Jahreszeit seinen besonderen Reiz hat, steht die Welt still. Ein Trugschluss, natürlich.

Der Bürgermeister

Wolfgang Purwin ist ein Stadtoberhaupt, das immer ein paar Schritte vorausdenkt. Denn seine größte Herausforderung bei der Führung und Organisation des "Unternehmens Ohlsdorf", sagt er, sei die wirtschaftliche Sicherung des Friedhofs. Er mache deshalb "Unternehmenspolitik für die nächsten Jahre". Und dazu muss er sich erst einmal viele Fragen stellen - und sie dann möglichst richtig beantworten. Zum Beispiel: Wie besetze ich die Stellen mit qualifiziertem Personal? "Was wir bieten können, ist ein schöner und sicherer Arbeitsplatz mit viel frischer Luft, einer betrieblichen Altersversorgung und einem tollen Betriebsklima", sagt er. "Und Parkplätze ohne Ende", fügt er hinzu und schmunzelt.

Purwin strahlt eine heitere Gelassenheit aus, er ist ein "Bürgermeister" für derzeit 340 Menschen. Rund 290 arbeiten in Ohlsdorf - davon 200 Gärtner, die restlichen in der Verwaltung, in der Kundenberatung und im technischen Betrieb. 50 sind in Öjendorf beschäftigt. Die Einnahmen "seiner Stadt" setzen sich zusammen aus Gebühren für Grabstätten und Einnahmen aus Grabpflege sowie aus Zuschüssen der Stadt, um den Friedhof als Kulturstätte und Park zu erhalten. Ein "Meilenstein" sei der Bau des Bestattungsforums gewesen, das vor einem Jahr eröffnet worden ist und die Attraktivität des Friedhofs enorm erhöht habe. "Es bietet den Menschen die Möglichkeit, ihre Trauerfeier ganz individuell zu gestalten", sagt Purwin. Eher modern oder lieber traditionell, an einem Tag oder auch an mehreren. So wie der Kunde es wünscht. Denn nur zufriedene Kunden, das weiß Purwin, sind der Garant für die Zukunft seiner Stadt.

Die Ohlsdorfer

Andrea Folster, 50, ist seit 1997 in Ohlsdorf und eine von acht Gärtnermeistern. Ihr Team der Friedhofsgärtnerei bei Kapelle 13 besteht aus elf Mitarbeitern, sie ist für die Grabpflege zuständig. Sie berät die Menschen, die ein Grab suchen, und zeigt ihnen die Möglichkeiten vor Ort. "Das Grab soll den Verstorbenen gerecht werden", sagt sie. Was hatten diese für Gewohnheiten? Hatten sie eine alte Eiche im Garten stehen? Wäre ein Platz bei den Rhododendronsträuchern angebracht? Liebten sie die Sonne? Oder den Schatten? Welche Blumen mochten sie? "Das ist jedes Mal eine individuelle Entscheidung", sagt Andrea Folster, die oft die Erfahrung macht, dass die Angehörigen plötzlich sehr viel über den Verstorbenen erzählen.

Ihr Arbeitsgebiet umfasst 46 Hektar mit rund 2000 Gräbern, die von ihrem Team gepflegt werden. Im Jahr organisiert sie rund 200 Sarg- und 900 Urnenbeisetzungen. Sie bestellt auch Pflanzen für die Beete: "Im Frühjahr brauchen wir 22 000 Stiefmütterchen und 22 000 Eisbegonien." Das Schöne an ihrer Arbeit? "Ich bin im Büro und auch in der Natur - und habe ständig Kontakt mit Menschen." Ihr Job sei es, "die Trauernden auf ihrem schweren Weg zu begleiten und ihnen die Schönheit der Natur näherzubringen".

Natürlich bekomme man hier eine andere Beziehung zum Tod. "Er wird selbstverständlich", sagt Andrea Folster. "Wir haben ja alle schon einen Menschen verloren. Der Friedhof und die Natur fangen einen auf."

Die Kommunikation

Rainer Peeck, 55, ist Leiter der Informationstechnik und sitzt mit seinen fünf Mitarbeitern im Hauptgebäude gleich am Eingang an der Fuhlsbüttler Straße. Hier schlägt das digitale Herz des Friedhofs. "Wenn unser System einen Tag ausfällt, wird es problematisch", sagt er. In die Kommunikationszentrale sind über Jahre die Erfahrungen der Mitarbeiter eingeflossen. "Wir sind ein tolles Team", sagt Rainer Peeck. Und das klingt nicht nur so dahingesagt.

Sie haben das interne Betriebssystem mit dem Namen FRITS selbst entwickelt. Es erfasst sämtliche Bestandsdaten, die täglichen Beisetzungsvorgänge, die Einäscherungen, das Aufgraben der Grüfte bis hin zur Rechnungsstellung. Seit zehn Jahren können die Bestatter rund um die Uhr ihre Termine online buchen. Aktuell sind im Datenbestand von FRITS 370 000 Grabstätten in einem Geo-Informationssystem mit ihren Koordinaten erfasst.

Peeck organisiert mit seinem Team über das System den E-Mail-Verkehr, den Einkauf und den Internetauftritt des Friedhofs. Die Gärtnermeister können mobil am Grab auf die Daten zugreifen, seit Neuestem auch per Smartphone. "Wir müssen sicherstellen, dass zur richtigen Zeit am richtigen Ort alles reibungslos abläuft." Das heißt auch, dass 160 PC-Arbeitsplätze und 20 mobile Smartphones jederzeit funktionieren müssen. Dann führt uns Peeck in die Kellergeschosse. Hier lagern in raumhohen Regalen Hunderte historische Ordner, in denen die Verstorbenen handschriftlich aufgelistet sind. "Diese Dokumente werden in den kommenden Jahren digitalisiert."

Die Sicherheit

Hans-Heinrich Merk, 58, fährt fast täglich mit dem Fahrrad über den Friedhof. "Ein wunderschöner Arbeitsplatz, mitten in der Natur und sehr gepflegt", sagt der bürgernahe Beamte ("Bünabe") vom Polizeikommissariat 36 in Bramfeld. Und sehr sicher obendrein. "Schwerwiegende Delikte sind selten." Merk ist hier seit 15 Jahren im Einsatz. Wenn überhaupt, dann beklagt er kleine Diebstähle. "Die Menschen, die zu Beerdigungen kommen, haben es manchmal eilig, dann lassen sie Handys oder Handtaschen sichtbar im Auto liegen." Oder sie stellen ihre Handtasche aufs Grab, holen Wasser - und wenn sie zurückkommen, ist die Tasche weg. "Das ließe sich leicht vermeiden."

Manchmal wird er informiert, wenn Autofahrer den Friedhof als Abkürzung benutzen. "Dann machen wir Geschwindigkeitsmessungen." Schließlich sieht er es auch als seine Aufgabe an, diesen Ort als Stätte der Ruhe und Besinnung zu bewahren. Mit dem Tod hat er keine Berührungsängste. "Der Tod gehört für mich zum Leben."

Der Verkehr

Manfred Waßmann, 63, hat sich bei seiner ersten Fahrt auf dem Friedhof gleich verfahren. "Ich musste damals einen Fahrgast fragen, wo es langgeht", sagt er und lächelt bei der Erinnerung. 25 Jahre ist das jetzt her. Damals im Winter war alles weiß in Ohlsdorf, und die Straßen lagen unter einer dicken Schneedecke. Mittlerweile kennt der Busfahrer von der Hochbahn hier jede Ecke - und ganz viele seiner Fahrgäste. Am frühen Morgen sind es die Gärtner, die mit dem 170er oder dem 270er zu ihren Kapellen fahren. "Viele Hamburger wissen gar nicht, dass der Friedhof zwei Buslinien mit insgesamt 21 Haltestellen hat", sagt Waßmann. Touristen dächten oft, sie seien in einem großen Park. Anderen erklärt er, wie sie zum Grab von Hans Albers kommen.

Waßmann hört seinen Kunden zu. Und er wartet auch mal, wenn sie kurz aussteigen möchten, um auf das Grab ihres Lebenspartners Blumen zu legen. Sie dürfen manchmal sogar zwischen den Haltestellen einsteigen. "Viele ältere Besucher sind ja nicht mehr so gut zu Fuß", sagt Waßmann. "Und ich werde ja auch mal alt." Manchmal ist er gerührt von ihrn Geschichten. Und er beobachtet die Menschen. Den alten Mann, der jeden Tag kommt und dann lange auf einer Bank am Grab seiner verstorbenen Frau sitzt. Waßmann hat sich der Umgebung angepasst. "Wir sind hier nicht auf der Flucht", sagt er. Bei Trauerzügen wird der Motor abgestellt. "Das Wichtigste ist der Respekt."

Die Prominenz

Ob er an ein Leben nach dem Tod glaubt? "Das wäre schön", sagt Claus Hagenbeck, 70, "aber wenn nicht, dann ist auch gut." Angst vor dem Tod habe er nicht. Aber "Angst vor Siechtum". Der Tierpark-Chef steht vor dem Grab des Gründers Carl Hagenbeck, seines Urgroßvaters. Den gewaltigen Grabstein schmückt eine Bronzeplastik von Hagenbecks Lieblingslöwen "Triest". Das Familiengrab liegt in der nordöstlichen Ecke des sogenannten Millionenhügels. Der von Josef Franz Pallenberg geschaffene Löwe achtet seit 1913 darauf, dass das Grab nicht von Unbefugten betreten wird. Durch eine kniehohe Pforte gelangt man zu den 20 Grabstellen.

Claus Hagenbeck erklärt die Beziehungen der Verstorbenen. Bei der großen Familie ist es gar nicht so leicht, den Überblick zu behalten. Er kommt manchmal mit seinen Enkelkindern hierher. Oder auch alleine. "Ohlsdorf ist für mich ein Ort der Ruhe." Und ein wunderschöner Platz. "Den Friedhof kann man mit unserem Tierpark vergleichen. Die Landschaftsgestaltung erfreut mein Herz, vieles von dem finde ich auch bei uns - großzügige Rasenflächen, alte Bäume, prächtige Hecken und Naturwege." Da merke man, dass sich bei der Gestaltung jemand etwas gedacht hat. "Einer der weiß, wie ein Ort in 100 Jahren aussehen wird."

Die Geschichte

Rainer Wirz, 56, ist Diplom-Ingenieur der Landespflege und seit viereinhalb Jahren Friedhofsleiter. Er nennt als Erstes die Namen Wilhelm Cordes und Otto Linne. Cordes, Sohn eines Wilhelmsburger Landwirts, der ab 1874 als Architekt in Hamburg arbeitete und die maßgeblichen Entwürfe für den "Centralfriedhof" lieferte. "Eine geschwungene Parklandschaft mit Teichen, Hügeln und verschlungenen Wegen", sagt Wirz. Die Idee von Cordes, der nach der Eröffnung 1877 Bauleiter, Friedhofsverwalter und 1898 Direktor wurde: Nicht nur Beisetzungsfläche, auch Erholungsraum für Städter sollte der Friedhof werden. "Im Stile englischer Landschaftsgärten und amerikanischer Parkfriedhöfe", sagt Wirz.

An Cordes erinnert heute ein Denkmal, ein Brunnen und die Cordesallee, die breiteste Straße des Friedhofs, die vom Verwaltungsgebäude bis zum Wasserturm führt. Daran schließt die östliche Erweiterung an, auch Linneteil genannt. Nach Otto Linne, dem Nachfolger von Cordes. Der Friedhofsreformer gestaltete ab 1920 den 200 Hektar großen Teil mit geometrischen Strukturen. "Der Übergang ist aber kein Bruch, sondern eine gelungene Ergänzung." Während im Cordes-Teil bei entsprechendem Lichteinfall immer wieder faszinierende Schattenspiele zu beobachten seien, gestatte der Linne-Teil weite Blicke in die Gräber hinein.

Die Kirche

Olaf Krämer, 49, arbeitet seit zehn Jahren in Ohlsdorf. Er ist der einzige Friedhofspastor in Deutschland und liebt seinen Job auch deshalb so sehr, weil er sich ausschließlich um Seelsorge kümmern kann und keinerlei Management-Tätigkeiten wahrnehmen muss. "Ich kann mich auf die Menschen konzentrieren." Er erlebt diese in "extremen Krisensituationen". Die Trauer, sagt er, maskiere sich oft hinter Wut. Die Trauernden seien aber auch dankbar für jedes Wort. "Zum Glück sterben die meisten Menschen eines natürlichen Todes." Er spricht von einem "normalen Abschiednehmen nach einem langen Leben". Krämer setzt sich mit den Angehörigen zusammen und bittet sie, verbal ein Bild von dem Verstorbenen zu malen. "Dann sprudeln viele los." Und irgendwann könne man erspüren, was der Tote für ein Mensch gewesen sei. Rund 250 Beerdigungen führt er im Jahr durch. Manchmal müsse man es auch aushalten, dass man keinen Trost spenden kann und dann "in die Klage einstimmen". Bei jungen Menschen, die sich das Leben genommen haben oder tödlich verunglückt sind.

In einer Gesellschaft, die den Tod ausklammert, sei Ohlsdorf ein sehr würdiger Ort. "Ein Prachtexemplar für das Totengedenken mit seinem Park, seinen Blumen, seinem bunten Leben - und der Präsenz der Sterbenden."

Die Gastronomie

Michael Ränsch, 49, ist zusammen mit seiner Frau Nicola seit einem Jahr für die kulinarischen Bedürfnisse auf dem Friedhof zuständig. So lange gibt es das Café Fritz im neuen Bestattungsforum. "Hier trifft Tradition auf Moderne", sagt Ränsch, von Beruf Küchenmeister. Große helle Räume, eine moderne Inneneinrichtung, der Blick geht durch hohe Fenster in den Park. Mit seinem zwölfköpfigen Team präsentiert er seinen Gästen eine frische Küche in einem einmaligen Ambiente. Besucher bekommen schon ab zehn Uhr morgens ein Frühstück auf der Sonnenterrasse, es gibt wechselnden Mittagstisch und durchgehend hausgemachten Kuchen aus der eigenen Konditorei. "Am Wochenende haben wir bis zu 300 Gäste, die zum Kaffeetrinken zu uns kommen", sagt Ränsch, der auch stilvolle Abschiedsempfänge und Feierlichkeiten für Familien oder Firmen gestaltet.

Die Kultur

"Wir brauchen die Kultur, um auch Menschen für den Friedhof zu interessieren, die noch nie in Ohlsdorf waren", sagt Lutz Rehkopf. Seit 14 Jahren ist der 48-Jährige für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig, besonders liegen ihm die kulturellen Veranstaltungen am Herzen. Ausstellungen, Lesungen, Konzerte, Theateraufführungen - all das öffnet den Friedhof für ein breites Publikum. Mehr als 4000 Besucher kommen zudem jedes Jahr zu den regelmäßigen Themenführungen und lassen sich Rosengrabstätte, Baumgräber, Paar-Anlage oder Schmetterlingsgarten zeigen.

Bei einem Freiluftkonzert der Hamburger Symphoniker bestaunten knapp 500 Besucher die Video-Installationen zu den Klängen von Simon Stockhausen, am Grab von Wolfgang Borchert lauschten sie einer Lesung am Todestag des berühmten Hamburger Dichters. "Wir versuchen den Menschen wichtige Anstöße zu geben, wie man mit dem Thema Tod und Sterben auch umgehen kann", sagt Rehkopf.

Das Museum

Helmut Schoenfeld, 79, kennt den Friedhof wie kein Zweiter. Neulich, erzählt er, konnte er einem Forscher aus Amerika helfen, der sich für Gräber von Indianern in Deutschland interessiert. "Er suchte nach dem Grab eines Indianers, der als Reiter mit einem Zirkus in Europa war." Sie haben es tatsächlich in Ohlsdorf gefunden. Andererseits: Wer, wenn nicht Schoenfeld, hätte es ausfindig machen können. Der Diplomingenieur für Landespflege, der ab 1970 die Planungsabteilung von Ohlsdorf und Öjendorf leitete, begann bereits 1951 in Ohlsdorf eine Lehre als Gärtner. "Dieser Ort hat mich von Anfang an fasziniert", sagt er. Er hat ihn nicht mehr losgelassen. Schoenfeld gründete 1989 einen Förderkreis und war 1995 Mitbegründer des Museums. "Wir wollen mit Fotos und Büchern, Zeitschriften und Vorträgen der Öffentlichkeit diesen wunderbaren Ort näherbringen." Ein Ort, an dem Hamburgs Geschichte der letzten 200 Jahre an fast jeder Stelle abzulesen sei.

Montags steht er den Besuchern im Museum selbst Rede und Antwort. "Man darf mich alles fragen", sagt er. Und wenn er die Antwort wirklich einmal nicht kennt, ist eines sicher: "Ich weiß, wo ich sie finde."