Schriftstellerin Ulla Hahn, eine Rheinländerin in Hamburg, über “Brennende Liebe“. Für die Autorin ist das Früher ein Schlüssel zu vielem.

Harvestehude. Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Folge 64: Ulla Hahn. Sie bekam den roten Faden von Weihbischof Hans-Jochen Jaschke.

Allein das Foto zu betrachten, könnte schnell in die Irre führen: Ganz in Schwarz gekleidet, empfängt Ulla Hahn zum Gespräch - nur beim Halstuch mischt sich etwas Rot ins Muster. Ein Zeichen für Verschlossenheit? Nein, die renommierte Schriftstellerin hat es schlicht nicht nötig, mit Farben auf sich aufmerksam zu machen. Sie hat es sich auf der beigefarbenen Couch bequem gemacht, die Beine auf Höhe der Waden überkreuzt und seitlich hochgelegt. Und dann beginnt sie zu erzählen. Wenn es passt, lächelt sie, schüttelt bei schönen Erinnerungen leicht den Kopf und unterstützt das Gesagte mit einem Blick, der Freude und Zufriedenheit vermittelt.

Das alles tut sie vor allem dann, wenn sie über ihren Ehemann Klaus von Dohnanyi, SPD-Politiker und ehemaliger Erster Bürgermeister Hamburgs, spricht. "Mein Mann ist das Beste am Norden." Und selbst das reicht nicht aus. "Mein Mann ist das Beste im Leben", korrigiert sich die aus dem Rheinland stammende Wahl-Hamburgerin.

Die Menschen aus dieser Gegend oft nachgesagte Frohnaturen - was auch ihr anzumerken ist. Noch immer beherrscht sie Kölsch. Und noch immer, nach 40 Jahren in Hamburg, ist für sie das Hanseatische manchmal etwas ungewohnt. Etwa wenn sich am Würstchenstand ein Paar zum Essen neben sie stellt und kein Wort zur Begrüßung verliert. Oder wenn sie direkt nach einem Besuch in der Heimat in Hamburg breit lächelnd in den Bus einsteigt. "Die Leute um einen herum denken dann, man hat einen Schaden", sagt die 66-Jährige. Zurück an den Rhein will sie dennoch nicht: "Mein Mann ist ja hier."

Überraschende Sätze von einer, die selbst über sich sagt, dass sie nie lange mit einem zusammen sein wollte. "Heiraten war eine furchtbare Vorstellung für mich." Trotzdem stand sie eines Dezembertages vor dem Standesamt. Morgens um 20 vor acht. Ganz sachlich. Liebe ja, tiefe Verbundenheit ja. Oktroyierte Romantik? Eher nicht. 20 Jahre sind die beiden nun ein Paar. Angefangen hat alles im Rathaus. Hahn, damals noch Kulturredakteurin bei "Radio Bremen", war beruflich auf der Veranstaltung "Poesie im Rathaus". "Eigentlich hatte ich gar keine Lust hinzugehen", sagt sie. Aber es ging um Heinrich Heine. Also doch hin. "Und da habe ich ihn zum ersten Mal gesehen." Da ist es wieder, dieses zufriedene Lächeln.

Dann erzählt sie, wie die Lieblingspflanze der beiden heißt: "Brennende Liebe". Das sagt alles. Was ist das Wichtigste in einer Ehe? Ulla Hahn muss nicht lange nachdenken: "Respekt."

Etwas, das Ulla Hahn nicht immer entgegengebracht wurde. Hinter ihr liegt ein nicht einfacher Weg. "Ich komme aus einer Familie, die viel schwieriger gar nicht hätte sein können", sagt sie. Arbeitermilieu, Dorf, katholisches Umfeld. In dem Leben, das für sie vorgesehen war, kamen Literatur, Hochdeutsch und wilde Ehen nicht vor. Letztlich ist alles, was Ulla Hahn heute ist, auf einen ganz kurzen Moment zurückzuführen. Auf diesen Moment in der vierten Klasse, in dem ihr Lehrer auf sie zeigte und sagte: "Steh auf!" Hahn bezeichnet den Satz heute als "magische Worte". Das Mädchen hörte auf die Anweisung, die sein Leben veränderte. Es ging um den Wechsel auf eine weiterführende Schule. Der Lehrer hatte alle Schüler, die für einen solchen Wechsel infrage kamen, aufgefordert, sich zu erheben. Und da stand dann das Kind aus der Arbeiterfamilie. Das Schulgeld für die Realschule übernahm der Bürgermeister. Der Lehrer und der örtliche Pfarrer überzeugten die Eltern.

Eine schwierige Zeit folgte. Hahn entfremdete sich von ihrer Familie, ihren Wurzeln, ihrer Nestwärme. "Für meine Eltern war das auch nicht leicht", sagt sie. Das eigene Kind wurde ihnen unheimlich. Es ging zur Schule, war im Begriff, "etwas Besseres" zu werden. "Eine Art Kuckuckskind", sagt Hahn. "O Gott, das waren schwere Kämpfe." Für den Vater, einen Hilfsarbeiter, wurde sie zum Spiegel eines Lebens, das er selbst nicht haben konnte. Er hasste Bücher und Wissen. "Was willst du hier mit den Büchern?", herrschte er das lesefreudige Mädchen an. Hahns Zuflucht wurde ein kleiner Tisch mit Stuhl im Holzstall. Hier konnte sie sich ihrer Leidenschaft hingeben. Lesen war ihr "geistiger Freiraum". Besonders Schiller hat sie geprägt. "Der Apostel der Freiheit - wie Goethe ihn genannt hatte - war ungeheuer ermutigend für mich."

Dieses sich Herauswinden aus einem vorgegebenen Rahmen, nahm Hahn - bis dahin im Schwerpunkt Lyrikerin - als Vorlage für ihren 2001 erschienenen Roman "Das verborgene Wort". Darin geht es um das Mädchen Hildegard "Hilla", das aus der dörflichen Arbeiterklasse heraus nach einem anderen Leben strebt - und natürlich geht es auch um Ulla Hahn. Für das stark autobiografische Werk gewann sie den Deutschen Buchpreis. Sie sagt, wichtig sei ihr so was nicht. Zumal wenn man wisse, dass solche Auszeichnungen oft durch Zufall zustande kämen. "Was zählt, ist die Freude am Schreiben."

In den Jahren zwischen dem Mädchen Ulla und dem Mädchen Hilla ist viel passiert: die Mittlere Reife, eine kaufmännische Ausbildung, die Hahn nicht als ausfüllend empfand und die sie deshalb abbrach, das Aufbaugymnasium, Abitur, Studium in Germanistik, Soziologie und Geschichte in Köln, Promotion, Lehraufträge, Kulturredaktion, Veröffentlichungen von Lyrik und Belletristik. Hinzu kommen zahlreiche Nebenjobs im jungen Alter.

"Ich habe Jobs gehabt, das können Sie sich gar nicht vorstellen", sagt sie und beginnt, mit diesem seligen Lächeln zu erzählen. Warum erinnert sie sich so gerne an diese Episoden? "Weil sie leicht und witzig sind", sagt sie. "Schon im Moment ihrer Entstehung waren sie es." Im Alter von 13 Jahren etwa gab sie sich als 14 aus, um in der Fabrik Medikamente einpacken zu dürfen. Später war sie Statistin im Fernsehen - unter anderem in der Spielshow "Vergissmeinnicht". "Das war alles gestellt", sagt sie. Es gab Verträge mit Verschwiegenheitsklauseln. "Aber jetzt, nach so vielen Jahren, kann man das ruhig erzählen." Hahn arbeitete noch nach ihrer Promotion als Model - sie sagt "Mannequin" - für Kindermode. "Ich sah lange aus wie ein Kind". Zudem war und ist sie relativ klein. 156 Zentimeter misst sie heute. "Einer mehr als Napoleon", sagt sie. Trotzdem hält sie manchmal nach Hosen für sich in der Kinderabteilung Ausschau.

Für Ulla Hahn ist das Früher ein Schlüssel zu vielem. "Wer die Vergangenheit eines Menschen nicht kennt, kann auch den Menschen heute nicht kennen", sagt sie. So war es auch bei den Eltern. Erst als sie selbst erwachsen war und mehr über ihren Vater erfuhr, konnte sie sein Handeln nachvollziehen. "Und oftmals wird erst durch Distanz Nähe wieder möglich", sagt Hahn.

Während ihres Studiums entwickelte ihr Vater die Anerkennung, die ihr zuvor verwährt blieb. "Aber zu diesem Zeitpunkt hatte sich das Verhältnis zwischen Eltern und Kind fast schon umgedreht." Erst in den letzten Jahren vor dem Tod des Vaters bauten die beiden ein gutes Verhältnis auf.

Für Hahn schließt sich nun der Kreis. Ihr kleines Elternhaus in Monheim am Rhein wird unter dem Namen Ulla-Hahn-Haus zu einem Zentrum für Sprach- und Leseförderung. "Ich wollte etwas Lebendiges." Hahn freut sich sehr, einen nach ihr benannten Nachwuchsautorenpreis zum ersten Mal zu vergeben. Die von der Sparkasse Monheim gestiftete Auszeichnung geht an Nadja Küchenmeister für den Gedichtband "Alle Lichter". Hahn will Talente unterstützen, so wie sie unterstützt wurde. Ihre Art, "Steh auf!" zu sagen.

Ulla Hahn reicht den roten Faden weiter an Nikolaus Besch, "weil er uns Hamburgern mit seinem Theaterfestival die beglückende Möglichkeit gibt, auf die große Theaterwelt des deutschsprachigen Raums zu schauen".