Die “flache Hierarchie“ ist im Fußball ein Unwort - wie der peinliche Auftritt der Nationalmannschaft bewiesen hat

Der Schock des 4:4 gegen Schweden sitzt tief. Ein Unentschieden, das sich anfühlt wie zehn verlorene Spiele. Man kann nur hoffen, dass diese 90 Minuten von Berlin tatsächlich so knallhart analysiert werden, wie es DFB-Manager Oliver Bierhoff im ersten Moment nach dem peinlichen Abend angekündigt hat. Der Berliner Auftritt der Nationalmannschaft hat nämlich mehr als deutlich zutage gefördert, welche Schwächen durch eine Stunde Weltklassefußball beinahe vergessen worden wären. Schönreden wie zu den schlechtesten Zeiten beim HSV, die übrigens noch gar nicht so lange her sind, nützt hier nichts.

Als die deutsche Auswahl das erste Gegentor kassierte, dachte ich spontan: Ist ja verständlich, dass die Jungs nun einen Gang zurückschalten, denn in wenigen Tagen geht es zurück in den Bundesliga-Alltag. Da kann man schon mal seine Kräfte schonen, es geht ja um Titel, um die Champions League und Plätze im internationalen Geschäft. Nach dem 4:2 erinnerte ich mich an einen alten Fußballspruch (nein, nicht Sepp Herbergers 90 Minuten): "Hat erst einmal der Schlendrian Einzug gehalten, lässt sich während der Partie nur selten noch einmal der Schalter umlegen. Meistens geht es bis zum Schlusspfiff drunter und drüber." Genauso kam es gegen die Schweden.

Nach dem 4:4 muss über die Floskel von der "flachen Hierarchie" diskutiert werden. Denn diesem sehr jungen DFB-Team fehlt ein echter Häuptling. Ein Spieler, der den Mund aufreißt, der den Blick der Kollegen auf das Wesentliche schärft, der alle eingeschlafenen Mitspieler wieder aufweckt. In dieser Nationalmannschaft gibt es dagegen nur brave Jungs, und die geben in jeder Partie "das Schweigen der Lämmer". Niemand nimmt, wenn der Untergang droht, das Heft in die Hand. Kein Kapitän namens Philipp Lahm wird mal laut, kein Bastian Schweinsteiger, erst recht kein Manuel Neuer. Und wenn dann, wie gegen Schweden, keine Hilfe von außen kommt, vom Bundestrainer, dann wird aus der Seenot eine Havarie.

Diese "flache Hierarchie" ist für mich ein Reizthema. In meinen Augen muss es nämlich eine Führungspersönlichkeit geben. Und damit meine ich keine extrovertierten Lautsprecher wie zum Beispiel Stefan Effenberg oder Mario Basler. Es geht um jene, die allein mit unantastbaren Leistungen Vorbild sind. So wie es einst ein Franz Beckenbauer war, ein Lothar Matthäus, Jürgen Klinsmann, Matthias Sammer und auch Oliver Kahn. Jeder von ihnen hatte auch auf dem Spielfeld etwas zu sagen.

Oder ganz früher Uwe Seeler. Was hat "uns Uwe" damals seinen HSV oder auch die Nationalmannschaft nach allen Regeln der Motivationskunst aufgemischt, wenn es nicht lief! Da rappelte es im Karton. Und niemand wäre hinterher auf die Idee gekommen, dass Seeler sein Gemeckere persönlich gemeint haben könnte. Er wollte die Mitspieler nur mitreißen, um das Spiel zu gewinnen. Oft genug hat es noch auf diese Art geklappt.

In dieser Nationalmannschaft wird aber zu viel vor dem Spiel und auch nach dem Schlusspfiff geredet - nur nicht während der 90 Minuten. Daran hapert es. Wenn ein Toni Kroos in der Woche sagt, dass er kein Mann für die Ersatzbank sei, dann muss er es im Spiel gegen die Schweden auch zeigen. Aber wo war der aufmüpfige Bayern-Spieler? Wo waren Schweinsteiger, Mertesacker, Neuer? Der Torwart hatte vor dem Schweden-Spiel noch vollmundig gesagt: "Man darf nie abschalten." Alles nur Worthülsen. Und vielleicht ist diese Nationalelf auch nur ein wenig zu jung.

Damit sind wir beim HSV. Auch da gab es in diesem Jahrtausend lange keinen wirklichen Häuptling auf dem Platz. Heiko Westermann hat sich daran versucht, war in Sachen Leistung stets ein Vorbild, aber er blieb lange Zeit der einsame Rufer in der Wüste. Später gesellte sich Dennis Aogo dazu, aber erst in dieser Saison hat der HSV keine "flache Hierarchie" mehr. Zum Glück haben Westermann und Aogo gestandene Männer an die Seite bekommen, Könner wie René Adler und Rafael van der Vaart. Diese Spieler reißen ihre jungen Nebenleute mit, sagen ihnen, worum es geht und sorgen dafür, dass der neue HSV voller Konzentration und mit einer gehörigen Portion Siegeswillen Fußball spielt.

Genau deswegen freue ich mich wieder auf diesen Sonntag, wenn der HSV mit seinen Häuptlingen gegen den VfB Stuttgart spielt. Westermann, Adler, van der Vaart und Co. werden schon sagen, wohin der Hase zu laufen hat.

Die HSV-Kolumne "Matz ab" finden Sie täglich im Internet unter www.abendblatt.de/matz-ab