Der Kontinent wächst trotz aller Probleme immer mehr zusammen, doch das geteilte Zypern verharrt in Verbitterung und Hass

"Was der Mensch doch nicht alles erfährt, wenn er sich einmal hinterm Ofen hervormacht", lässt Joseph von Eichendorff seinen "Taugenichts" sinnieren, als es diesen nach Italien verschlägt. Dieses Juwel spätromantischer deutscher Prosa entstand um 1822; eine Reise nach Italien, dem klassischen Sehnsuchtsland der Deutschen - das der preußische Beamte Eichendorff nie gesehen hat -, war äußerst mühselig und dauerte viele Wochen.

Heute ist Europa innerhalb weniger Flugstunden zu durchmessen. Und der Kontinent ist ungeachtet aller drängender Probleme vergleichsweise zu einer Insel der Seligen in der Welt geworden. Der Fall des Eisernen Vorhangs und der Mauer, die Wiedervereinigung der Deutschen in Frieden und Freiheit sowie die Eingliederung weiter Teile Osteuropas in eine Zone des Wohlstandes und der Demokratie schufen die Voraussetzungen dafür.

Doch wer sich einmal hinterm Ofen hervormacht und sich ganz in die östliche Ecke des Mittelmeeres begibt, nach Zypern, kann eine Zeitreise in die Ära der Teilung machen. Zypern, nach Sizilien und Sardinien die drittgrößte Insel des Mittelmeeres, gehört zwar geografisch bereits zu Asien, da auf der Anatolischen Platte liegend. Kulturell und politisch jedoch ist das Eiland, etwas mehr als halb so groß wie Schleswig-Holstein und von gut einer Million Menschen bewohnt, Bestandteil Europas und seit 2004 Mitglied der EU.

Faktisch gilt dies jedoch nur für den südlichen, von ethnischen Griechen bewohnten Teil. Der Norden ist unter Kontrolle der nur von der Türkei anerkannten Türkischen Republik Nordzypern. Im Jahre 2012, also nahezu eine Generation nach dem Fall der Mauer, kann man hier eine Teilung mit scharf bewachter Grenze, Demarkationslinie, mit Stacheldraht, argwöhnischen Grenzern und sogar Uno-Truppen besichtigen. Die Hauptstadt Nikosia, durch die diese Grenze ebenfalls verläuft, ist atmosphärisch ein Anklang an das geteilte Berlin. Die zyperntürkischen Grenzbeamten verlangen ein Tagesvisum und wetteifern, wie einst die Volkspolizisten, nicht eben um einen Charme-Preis.

Im Laufe seiner fast zehntausendjährigen Zivilisation erduldete Zypern unter anderem assyrische, ägyptische, mykenische, römische, türkische und britische Herren. Doch die Verbitterung im griechischen Südteil über die - völkerrechtswidrige - Besetzung Nordzyperns durch türkische Truppen 1974 ist überall greifbar. Die Zyperngriechen haben Angst vor einer weiteren türkischen Expansion und suchen Schutz unter den Flügeln der EU. Jeder Zypriot, mit dem man spricht, spuckt geradezu das Wort "Besetzung" aus. Nach 1974 hätten die Türken im Norden alle christlichen Gotteshäuser zerstört, geschändet oder zu Moscheen umgestaltet, erzählt man dem Reisenden.

Dieser steht dann stumm vor der einst wundervollen gotischen Sophienkathedrale, der zwischen 1209 und 1228 gebauten Krönungskirche der lusignanischen Könige von Zypern - heute Hauptmoschee von Nikosia. Die Glas-rosetten sind herausgeschlagen und die Löcher grob zugemauert, die Heiligenstatuen zertrümmert und das Gestühl entfernt. Auf die Turmstümpfe haben die Osmanen schon 1590 Minarette gesetzt. Das Bauwerk wirkt wie ein steinernes Symbol der Unversöhnlichkeit.

"Noch weiter kann ich nicht fahren", sagt Kapitän Marko, der Touristen mit seinem Boot die Küste entlangschippert, "sonst schießen die Türken noch auf mich." Mit vor Emotionen bebender Stimme berichtet er von der Teilung seines Landes und zeigt von See aus die leere Geisterstadt Varosia, die zu Famagusta gehört und heute türkisches Pfand und militärisches Sperrgebiet ist. "Die Deutschen verstehen mich wenigstens", knurrt er und fügt dann hinzu: "Aber ihr hattet es besser - ihr seid immerhin ein Volk."

Eigene Fehler werden auf Zypern nicht thematisiert; ein schon ungesunder Patriotismus hat sich beiderseits der "Grünen Linie" ausgebreitet. In die Berge über Nikosia hat man eine gigantische türkische Fahne gemeißelt.

Es ist ein Zynismus der Geschichte: Für viele Konfliktregionen der Erde ist die friedliche Vereinigung der einstigen Erzfeinde im geteilten Europa Vorbild und Ansporn. Doch hier, am Ostrand der EU, scheint die Zeit seit 1974 nahezu stehen geblieben zu sein. Das geteilte Zypern verharrt in Hass und Verbitterung und wartet auf ein Wunder. Wie jenes von 1989.