1500 Besucher am Tag kommen in die St.-Petri-Kirche im Herzen Hamburgs. Eine Oase der Stille, umgeben von Banken und Rathaus.

Sie hat eine Kerze angezündet. Schweigend blickt die junge Frau auf das kleine Licht. Manchmal zuckt die Flamme im Wind, wenn die Kirchentür aufschwingt und ein Schwall neuer Besucher in das Gotteshaus strömt. Sie flackert, aber sie erlischt nicht. Das Licht ist eines von mehreren Hundert, die an diesem Dienstag in der St. Petri-Kirche im Herzen der Hamburger Innenstadt angezündet werden. Bis zu 1500 Besucher werden hier, in der City-Kirche, jeden Tag gezählt. Es sei ein "Ander-Ort", sagt Hauptpastor Christoph Störmer, weil er anders sei als die quirligen Orte draußen. "Eine Insel, eine Oase, ein Gasthaus für die Seele."

Hierher, an den wohl ruhigsten Ort im Zentrum der Stadt, kommen Menschen verschiedener Nationalitäten, verschiedener Konfessionen. Es kommen Kinder und Jugendliche, junge Männer im Anzug, Mütter mit Kinderwagen, es kommen alte Männer und Frauen, Menschen mit viel Geld und jene, die gar nichts haben. Sie alle finden hier für ein paar Minuten, für eine Stunde oder einen ganzen Tag einen Ort der Ruhe, wo man einfach sein darf.

Da ist Peter, der Obdachlose. Einer von etwa 1000, die in Hamburg ohne Wohnung leben. Er ist 62 Jahre alt, trägt Vollbart und lange graue Haare, die er unter einem Kapuzenpulli zusammengeschoben hat. Wenn er spricht, schaut er über die Ränder seiner dunklen Sonnenbrille hinweg, die er immer trägt, auch wenn der Himmel wolkenverhangen ist. Peter ist da, wenn alle weg sind. Er schläft direkt neben dem Hauptportal vor einer kleinen Fluchttür im Schutz dicker Backsteinmauern. Er darf hier sein Nachtlager aufschlagen. "Ich schlafe hier gut und ich fühle mich sicher", sagt er. Auch wenn er insgeheim von einer eigenen Wohnung träumt. "Mit Dusche und kleinem Herd." Ein Zimmer, das wär was. Peter lebt seit 17 Jahren auf der Straße. Aber er weiß, wie sich das normale Leben anfühlt. Weil er selbst mal auf Obdachlose herabgeschaut hat, als wären diese der Abschaum der Gesellschaft. Im Schatten der Kirche erzählt er von Zeiten, als er noch richtig Geld verdiente, ein Haus besaß, eine Frau und einen Sohn. Alles hat er verloren. Erst ging die Frau mit dem Kind, dann kam die Kündigung. Wenig später musste das Haus verkauft werden. Seinen Sohn hat er das letzte Mal gesehen, als der Kleine dreieinhalb Jahre alt war. Er hat alles verloren, nur seinen Humor nicht. "Was ich tagsüber mache?", sagt er. "Ich versuche, einen guten Eindruck zu machen, was allerdings schwierig ist, wenn das Fahrrad voller Tüten hängt." Wenn um 10 Uhr Küster Gérard van den Boom die Kirchentür aufschließt, verschwindet Peter von St. Petri im Treiben der Stadt.

Und aus dem Treiben der Stadt kommen die Menschen, die einen "Ander-Ort" suchen. Sie kommen aus ganz unterschiedlichen Gründen. Teresa Pitura ist 60 Jahre alt, stammt aus Polen und ist katholisch. An diesem Vormittag nimmt die dunkelhaarige Frau auf den roten Kissen der Kirchenbänke von St. Petri Platz. Sie kommt fast jede Woche hierher, um Ruhe zu finden, neue Kraft zu schöpfen. "Gott ist überall", sagt sie. Frau Pitura ist Altenpflegerin. Sie hat täglich mit Menschen zu tun, die bald sterben werden. Sie muss viel aushalten, Trost spenden und Mut machen. Manchmal bitten die Bewohner sie, ein Licht in der Kirche für sie anzuzünden. Frau Pitura hat auch heute eine Kerze für die Heimbewohner in den weichen Sand vor der Marienfigur gesteckt. Das Zwiegespräch mit Gott tröstet sie. "Manche Menschen leben seit über 15 Jahren bei uns im Heim", sagt sie. "Das ist wie Familie." Wenn dann einer sterbe, gehe das an ihr nicht spurlos vorbei.

Sie kommen, weil sie der Toten gedenken. 17 000 Menschen sterben in etwa pro Jahr in Hamburg. Thomas Armstrong, 58, ist in die Kirche gekommen, um seiner Mutter nah zu sein. Sie starb vor zwei Jahren. Damals lebte Armstrong in Australien. Der Tod seiner Mutter holte ihn zurück nach Hamburg. Er hat die Heimat gesucht, um Trost zu finden. Dazu gehört auch St. Petri. "Ich liebe diese Kirche", sagt er. "Sie ist ein Stück vom alten Hamburg und gehört zu den ersten Gebäuden dieser Stadt überhaupt."

Wie alt die Kirche tatsächlich ist, weiß kaum einer so gut wie Paul Tiefenbacher. Er ist 72 Jahre alt und ein sogenanntes Gesicht der Kirche. Er kommt zu St. Petri, weil er etwas tun möchte. Jeder dritte Hamburger über 14 Jahren engagiert sich ehrenamtlich. Die Kirche ist dafür ein guter Ort, findet Tiefenbacher. Der Volksdorfer nimmt seine Aufgabe ernst. Im hellblauen Hemd und kariertem Sakko, die dunkelblaue Hose gebügelt und die braunen Schuhe auf Glanz poliert, steht er mit einer Handvoll Flyern am Fuße des Altars und verteilt Informationen. Stundenlang kann er über St. Petri erzählen. Vom Bau der ältesten noch bestehenden Kirche Hamburgs, die vermutlich Anfang des 11. Jahrhunderts gegründet worden ist und beim Großen Brand 1842 bis auf die Grundmauern niederbrannte. Sie wurde innerhalb von nur sieben Jahren neu aufgebaut und konnte 1849 wieder geweiht werden. Tiefenbacher weiß auch, dass St. Petri zunächst die Kirche der um sie herum lebenden Menschen war. 1839 waren es noch 10 700 evangelisch-lutherische Christen. Heute zählt die Ortsgemeinde zirka 100 Personen. Damit habe sich der Auftrag dieser Kirche verschoben. "Wir sind heute Kirche für die Stadt", sagt er. Alle Gemeindemitglieder trügen diese Aufgabe mit. Und ohne die Bereitschaft mitzuarbeiten, könnten die vielen Dienste nicht getan werden.

Sie kommen, um zu arbeiten. Etwa 300 Menschen stehen auf einem der vielen Dienstpläne von St. Petri. Und dann gibt es noch die, die nicht draufstehen und trotzdem mit anpacken. Renate Weber zum Beispiel. Sie ist 63 Jahre alt, lebt in Stellingen und kommt jeden Dienstag zum Fensterputzen und Sport machen. Ursprünglich wollte sie die 544 Stufen vom St.-Petri-Turm nutzen, um sich fit zu halten. Doch der Weg in 123 Meter Höhe kostet drei Euro. Frau Weber war das zu teuer. Also hat sie als Gegenleistung ihre Arbeitskraft angeboten. Seitdem sammelt sie bei jedem Aufstieg den Müll der Besucher ein. Und alle vier Wochen erklimmt sie mit Mikrofasertuch und Sprühflasche bewaffnet die hölzernen Stufen des Turms, um im Widerhall der 3400 Kilogramm schweren Stundenglocken und in schwindelerregender Höhe die 25 Bullaugen-Fenster in den oberen Turmebenen zu putzen. Ihr zu Füßen liegt die Stadt, im Süden der Hafen, die Elbe, die Harburger Berge. Im Norden die Alster, Harvestehude, Eppendorf, der Stadtpark. Unten schimmern die grünen Dächer des Rathauses. Alles winzig klein - ein erhabenes Gefühl. So still es im Kirchenraum ist, so laut ist es im Turm. Hoch oben zwischen Glocken und Eichenbalken, dort, wo einst die Türmer wachten, hört der Besucher die Stadt ausatmen. Zehn bis 15 Minuten braucht Frau Weber für den Aufstieg.

Sie kommen als Touristen. 9,5 Millionen gewerbliche Übernachtungen zählte das Statistikamt 2011. Und dieses Jahr werden es noch mehr sein. Dazu gehören Arndt und Catherine Meier, die mit ihren Kindern Melanie, 6, Martin Sören, 3, und Jake, acht Monate, die Mittagspause zu einem Kurzbesuch der Kirche nutzen. Sie kommen aus Schweden und sind für einen Kongress angereist. Arndt ist Klimaforscher. Einer, der die Phänomene der Welt rein physikalisch erklären kann. Er sagt aber dennoch: "Gott spielt eine Rolle in unserem Leben." Also zündet die Tochter eine Kerze für die Familie an und steckt sie in den Sand, der von einem Kreuz aus roten Backsteinen umrahmt ist.

Sie kommen, um zu beten. Während die Meiers im bunten Treiben der Stadt verschwinden, beginnt in der Martinskapelle links neben dem Haupteingang die Mittagsandacht. Eduard Biedermann will den acht Besuchern an diesem Dienstag "das nötige Fundament für das tägliche Handeln mitgeben". "Und nun kommen alle zusammen auf der Höhe des Tages und halten inne", begrüßt der 72-jährige ehemalige Kaufmann die acht Teilnehmer. "Lasst uns Herz und Hände erheben zu Gott, der unseres Lebens Mitte ist." Es wird ein Psalm gesprochen, etwas vorgelesen, gemeinsam gesungen und das "Vaterunser" gebetet. Für viele ist dieser kleine Gottesdienst ein wichtiges Ritual im Alltag. "Ich komme hier zur Ruhe, wenn ich vorher auch noch so nervös und aufgebracht war", sagt eine Besucherin. "Das hier ist sehr kostbare Zeit."

Das "Petri-Gen" nennt Hans Bäßler das. "St. Petri, das ist nicht nur ein Gebäude, eine Ansammlung historischer Backsteine", sagt er. St. Petri, das seien die Menschen hier, die sich im Zentrum der Stadt den Mühseligen, Beladenen öffneten und sich gleichzeitig engagieren, um etwas für die Stadt und für die Erkennbarkeit christlichen Glaubens zu tun. Bäßler kommt zu St. Petri, weil er Musik machen möchte. 24 Jahre hat er hier als Organist gearbeitet, bevor er 1994 an die Hochschule für Musik nach Hannover abberufen wurde. Der Professor hat seine Zeit in Hamburg nie als Arbeit empfunden. Und so nutzt er jede Gelegenheit, um wiederzukommen. Als die Mittagsandacht zu Ende geht, setzt sich Bäßler an die Beckerath-Orgel, die mit vier Manualen, 66 Registern und 4724 Pfeifen zu den größten und klangschönsten Orgeln der Stadt gehört. Er muss üben für die Stunde der Kirchenmusik, die jeden Mittwoch von 17.15 bis 18 Uhr durch St. Petri hallt. Sechseinhalb Sekunden trägt der Kirchenraum den Schall der Töne. "Ein Klang wie in einer klassischen Kathedrale", sagt Thomas Dahl, der seit 1996 die Kirchenmusik leitet.

Sie kommen nach Hause. Jörn-Dieter Cordes, 70, und seine Gertrud, 80, haben sich einen Platz auf der Kirchenbank gesucht. Es ist 17.15 Uhr und gleich beginnt die "Hör Zeit". 15 Minuten Musik und Lesung. Ehepaar Cordes ist in der Petrikirche zum Glauben gekommen. Das war im Mai 1988. Inzwischen wohnen die beiden in Uelzen. Aber wenn sie nach Hamburg fahren, um Kaffee zu kaufen und Brot, machen sie einen Abstecher zu St. Petri. Sie zünden eine Kerze an für ihre Freunde und nehmen sich Zeit für ein Gebet.

Sie kommen für einen Moment der Ruhe. Gabriel, 20, und Freundin Ruby, 16, die eigentlich andere Sachen im Kopf haben als Kirche. Das junge Paar ist zum Bummel in der Stadt. Und dann hatte Gabriel plötzlich die Idee, in die Petrikirche zu gehen. Ein paar Kirchenbänke hinter ihnen sitzt eine Dame aus Horn. Sie ist in die Kirche gekommen, um Danke zu sagen. Gerade hatte sie einen Termin in der Röntgenpraxis am Speersort. "Ultraschall", sagt sie, "Krebsnachsorge." Die Ärzte haben ihr gesagt, dass alles in Ordnung sei. Also ist sie in die Kirche gekommen, um ein Licht anzuzünden. Viele haben es ihr gleichgetan. Um 18.30 Uhr, als der Küster die Kirchentür schließt, scheinen die kleinen Flammen wie eine Insel der Erleuchtung im Gotteshaus.

Manchmal kommen auch Menschen zu St. Petri, die auf der Suche sind. "Ich zünde diese Kerze für mich an", hatte die junge Frau am Morgen gesagt. Sie sei schwanger, 27 Jahre alt, Muslimin und ohne Ausbildung. Den Kindsvater kenne sie erst seit einem Monat. Er wolle das Kind nicht. Sie überlegt, ob sie abtreiben soll. Ihr Verstand sagt: "Du musst." Ihr Herz sagt: "Du darfst nicht." Und die Religion? Sie weiß nicht weiter. Also ist sie in die Kirche gekommen. Um in der Stille der Metropole eine Antwort zu finden.