Kaum ist Peer Steinbrück Kandidat, hagelt es Vorwürfe. Die politische Kultur verlottert
Vielleicht hätte Peer Steinbrück doch auf seine Familie hören sollen: Die hatte den 65-Jährigen vor den Strapazen und Verletzungen durch Kanzlerkandidatur und das mögliche Amt gewarnt. Erst eine gute Woche ist es her, dass der SPD-Parteivorstand den gebürtigen Hamburger als Merkel-Herausforderer für die Bundestagswahl 2013 nominiert hat, da hagelt es schon Kritik.
Zunächst wurde ein läppischer Bettelbrief für die Organisatoren der Schach-Weltmeisterschaft zur Schach-Affäre aufgebauscht, nun empört sich die halbe Republik über die Nebeneinkünfte des Kandidaten. Zwar hat der ehemalige Finanzminister seine Honorare nach Recht und Gesetz offengelegt, seinen Kritikern aber reicht das nicht. Die kolportierten Summen von 20 000 Euro für ein Engagement des SPD-Politikers erregen Opposition und Kommentatoren. Nur hätten sie vermutlich bei einem Kandidaten, der nie von Unternehmen zu Vorträgen eingeladen wird, geargwöhnt, ihm mangele es an wirtschaftspolitischer Kompetenz und Kontakten.
Längst hat das Scheibenschießen auf den Kandidaten begonnen. Und es wird weitergehen. Für die SPD ist das misslich; für die politische Kultur im Land ein Alarmzeichen. Natürlich ist es eine zentrale Aufgabe der Medien, Vorwürfe zu recherchieren, Fehlverhalten aufzudecken und Skandale zu benennen. Doch nicht alles taugt zum Skandal, nicht jedes Fehlverhalten ist eine Affäre, nicht jedes Detail eine Schlagzeile. Nach dem Desaster um Christian Wulff, den Schnäppchenjäger im Schloss Bellevue, ist aber jedes Maß offenbar verloren gegangen: Damals mokierte sich die Republik ernsthaft über ein geschenktes Bobbycar, zuvor standen Einladungen zu Fußballspielen in der Kritik. Und als der FDP-Generalsekretär Patrick Döring mit seinem Fahrzeug den Außenspiegel eines anderen Autos demolierte, schwadronierten Medien allen Ernstes von einer "Spiegel-Affäre". Sprachlich kann man es nicht krasser ausdrücken, wie die Maßstäbe im wahrsten Sinne des Wortes "verrückt" sind.
Völlig unverständlich ist, warum jede Petitesse von der politischen Konkurrenz skandalisiert, jeder Fehltritt gleich mit der Forderung nach Rücktritt beantwortet wird. Politik wird immer mehr zur Seifenoper, die Handelnden inszenieren sich als Helden und ihre Gegner als Schurken, im Drehbuch kommen nur noch Skandale, Streit, Intrigen, Affären und Vergehen vor. Für die Zuschauer mag diese Inszenierung unterhaltsam sein, sie überlagert aber alle Inhalte. Es geht fast nur noch um Personen, kaum um Positionen, nur noch um kleine Fehler, nicht mehr um die großen Ziele. Das Komplexe wird auf Köpfe reduziert, banalisiert, skandalisiert. Das bedient billige Reflexe wie Neid und Missgunst gegen "die da oben" und beschleunigt den Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Politik.
So musste sich auch Steinbrück zuletzt in ARD und ZDF vor allem zu seinen Nebeneinkünften äußern. Dabei haben die Gebührenzahler durchaus Anspruch auf Antworten auf die Frage, wie und wohin Steinbrück das Land eigentlich regieren will. Dieselbe Leidenschaft und Kritikfreude, die Steinbrücks Einkünfte gefunden haben, hätte man sich für die politische Bilanz gewünscht: beispielsweise die schleppende Entwicklung in Nordrhein-Westfalen in den Jahren 2002 bis 2005, als Peer Steinbrück dort Ministerpräsident war. Oder die Liberalisierung der Finanzmärkte, die in seine Zeit als Bundesfinanzminister zwischen 2005 und 2009 fiel. Und natürlich auch seine Steuererhöhungsfantasien im aktuellen Wahlkampf.
Wenn aber Nebensächlichkeiten in den Mittelpunkt rücken, werden die Hauptfragen an den Rand gedrängt. Auch Steinbrück geht die "absurde" und "dämliche" Debatte zunehmend auf die Nerven. Und nicht nur seine Familie dürfte sich fragen, warum man sich derlei eigentlich antut.