Die Faszination geht sehr weit über viele Generationen hinaus. Jetzt im Herbst ist die beste Zeit dafür, einen Drachen steigen zu lassen.

Hamburg. In jedem Jahrzehnt dürfte es in St. Peter-Ording kaum mehr als einen absolut windstillen Herbsttag geben. Genau diesen hatten wir uns ausgesucht, um mit den Kinder Drachen steigen zu lassen. Wir rannten abwechselnd durchs Watt, zogen den mit roter Kunstseide bespannten Lenkdrachen hinter uns her, aber der fiel immer wieder in den Schlick, sah mit seinem fröhlichen, bunten Drachenschwanz bald nicht mehr bunt und fröhlich aus, sondern schmutzig und ziemlich traurig. Es war nichts zu machen, ohne Wind wollte der Drachen einfach nicht fliegen. Die Kinder waren enttäuscht und ich habe mich geärgert über den Wind, der ausgerechnet an diesem Tag nicht wehen wollte.

Wir sind später nie wieder nach St. Peter-Ording gefahren, obwohl es heißt, dass man dort fast immer wunderbaren Wind zum Drachensteigen hat. Aber Wind gibt es fast überall, und in Norddeutschland haben wir davon ohnehin mehr als genug. Ich erinnere mich noch an meinen ersten Drachen. Meine Mutter hatte ihn mir gebastelt, er bestand aus einem einfachen Gestell aus ganz dünnen Holzstäben, das mit knallrotem Papier bezogen war. Lange gehalten hat er nicht, aber er flog wunderbar und - wie mir damals schien - unendlich hoch. Unvergessen dieses Glückgefühl, als ich die Schnur in die Hand nahm, auf einer Wiese an der Elbe losrannte und mein älterer Bruder hinter mir herlief, unseren Drachen dabei hoch hielt und ihn dann endlich losließ, auf dass er atemberaubend steil aufstieg und meine Fantasie und meine ganze Sehnsucht mit sich nahm in die Weite dieses blitzblank geputzten hellblauen Herbsthimmels.

Drachen sind eine wunderbare Erfindung, die fast jeder mag. Auch wenn wir sie selbst nicht steigen lassen, sehen wir ihnen gern zu, halten einen Moment inne und verfolgen, wie diese scheinbar schwerelosen Wesen ihre Bahnen himmelwärts ziehen. Wahrscheinlich wurden sie in China erfunden, wo man den Umgang mit Geistern und geheimnisvollen Fabelwesen seit jeher gewohnt ist. Schon im fünften Jahrhundert vor Christus erwähnt ein Geschichtsschreiber einen Drachen als Flugobjekt. Zunächst waren diese fliegenden Wesen Statussymbole für die Herrschenden, denn sie mussten mit Seide bespannt werden, die teuer war. Es gab Drachen, die nur für den Kaiserhof gebaut und nur vom Kaiser selbst geflogen werden durften. Erst mit der Erfindung des Papiers wurden Drachen auch für das Volk erschwinglich. Wahrscheinlich waren es buddhistische Mönche, die im zweiten Jahrhundert vor Christus von China aus nicht nur ihre Religion, sondern auch die Drachen nach Japan und Korea brachten, wo sie bald in höchstem Ansehen standen.

In China sind Drachen keine bösen Ungeheurer, sondern freundliche Geistwesen, die Freude bereiten. In vielen Teilen Asiens gibt es die Vorstellung, dass der Drachen Glück bringt. Man lässt ihn steigen, so hoch wie es geht. Dann kappt man die Schnur und überläst ihn den Launen des Windes, auf dass er davon fliegt und alle Mühsal, alle Sorgen und Gefahren mit sich nimmt.

Wie anders waren doch die Drachen in unserer Kultur. Keine Glücksbringer, sondern Ungeheuer mit Echsenhaut, die vielleicht Feuer spucken, aber kaum fliegen konnten. Sie mussten bekämpft und getötet werden. Drachentöter war früher ein Traumberuf. Der Erzengel Michael verstand sich darauf, zumal der Drachen ja als die Verkörperung von Satan galt. Der heilige Georg tötete Drachen und natürlich Siegfried, der sogar im Blut des erlegten Drachens badete, was ihn unverwundbar gemacht hätte, wäre er dabei gründlicher vorgegangen.

Mir sind die asiatischen Drachen sympathischer, die statt Feuer zu spucken lieber durch die Lüfte fliegen. Erst im 16. Jahrhundert gelangten sie auch nach Europa, wo sie die Menschen auf Jahrmärkten begeisterten. Ähnlich wie kostbare Gewürze oder edle Porzellane hatten Fernhändler sie vor allem seit dem 18. Jahrhundert verstärkt im Gepäck. Besonders Kinder fanden schnell Gefallen an den Flugobjekten, die sich relativ leicht nachbauen ließen. Die Leichtigkeit, mit der sie sich in die Lüfte erhoben, beflügelte immer wieder die Fantasie der Menschen, die es ihnen gleichtun, die endlich fliegen wollten.

Für Albrecht Ludwig Berblinger, besser bekannt als der Schneider von Ulm, endete ein solcher Versuch 1811 bekanntlich mit einem unfreiwilligen Bad in der Donau. Als Kind habe ich mich immer gefragt, wie es jenem Robert ergangen ist, der sich eines Regenschirms als Fluggerät bedient hatte. Im "Struwwelpeter", den der Arzt Heinrich Hoffmann 1845 veröffentlichte, heißt es über diesen sonst viel zu wenig gewürdigten Flugpionier: "Seht! Den Schirm erfasst der Wind/Und der Robert fliegt geschwind/Durch die Luft so hoch, so weit." Das Flugziel blieb bis heute unbekannt, denn: "Wo der Wind sie hingetragen/Ja, das weiß kein Mensch zu sagen." Otto Lilienthal schaffte es 1893 im Gleitflug immerhin 250 Meter weit und die Brüder Wright absolvierten in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts die ersten Motorflüge.

Doch damit hatten die Drachen nicht ausgedient. Der Amerikaner Samuel Franklin Cody entwickelte mit seinem man lifting system sogar einen Drachen, der Menschen in die Lüfte heben sollte. Später hat man den Drachen für allerlei zivile und militärische Zwecke nutzen wollen, aber so richtig zähmen ließ sich das fliegende Fabelwesen nicht. So blieb der Drachen bis heute ein beliebtes Kinderspielzeug, das aber auch Erwachsene gern fliegen lassen. Waghalsige Sportler fliegen mit Hängegleitern, die auch Drachen genannt werden, Abhänge hinunter. Kitesurfing und Snowkiting heißen Extremsportarten, die auch aus dem Drachenprinzip entwickelt worden sind.

Als die Kinder größer waren, habe ich dann irgendwann aufgehört, Drachen steigen zu lassen. Das änderte sich erst, als ich mit meiner Frau nach China fuhr, in die Heimat der Drachen. In unserem Hotelzimmer auf der tropischen Insel Hainan, ganz im Süden des Landes, lag als Aufmerksamkeit der Direktion keine Schokolade, dafür aber ein wunderschöner grüner Lenkdrachen. Obwohl es die Anleitung nur in Chinesisch gab, war die Zeichnung so einleuchtend und unmissverständlich, dass wir den Drachen schnell zusammenbauen konnten. Dann sind wir gleich hinunter zum Strand gegangen, wo schon viele Drachen flogen. Auch unser Exemplar bekam Wind unter die Schwingen und stieg weit in den Himmel hinauf - um uns Glück zu bringen.