Vergnügungen und Genuss bestimmen immer stärker unser Leben - doch für Milliarden Menschen sind die Grundbedürfnisse nicht erfüllt

Es waren Szenen wie aus der bitterarmen Nachkriegszeit oder wie aus dem Todeskampf einer sozialistischen Diktatur: Quer über den Globus standen Abertausende Menschen vor gewissen Läden für ein gewisses Produkt an - bemüht geduldig oder aber ungeduldig fiebernd. Aus New York wurde von einem Mann berichtet, der eine Woche lang auf einem Klappstuhl ausgeharrt hatte. An der Zürcher Bahnhofstrasse taumelte ein potenzieller Käufer nach immerhin 43 Stunden des Ausharrens in das Geschäft. In Hongkong, so wurde gemeldet, empfingen die Angestellten die ersten Käufer wie Staatsoberhäupter mit frenetischem Jubel. Ob München, Canberra oder Tokio - die Bilder der seltsamen Warteschlangen glichen sich aufs Haar.

Man könnte meinen, es würde dort ein Heilmittel gegen eine tödliche Krankheit angeboten oder es würden Spenderorgane verkauft. Tatsächlich ging es um das neue Modell eines Mobiltelefons, das einfach in einigen Bereichen ein bisschen weiterentwickelt ist als der Vorgänger. Und dass jeder Kaufinteressierte - ohne jede Warterei - ein paar Tage später ganz bequem hätte erstehen können.

Ohne Frage sind derartige Kommunikationsmaschinen nützlich. Doch im Hype um die jeweils neueste Version verschieben sich die Werte bis ins Groteske. Man muss die Wartenden fragen dürfen, ob sie bereit wären, einen so kompromisslosen Einsatz auch für ihre Kinder, ihre Ehe, ihren Beruf oder gar für ein soziales Engagement zu erbringen. Mitten in der schwelenden Weltwirtschaftskrise barmen sich viele Menschen, ob sie auch ja zu jenen Auserwählten gehören, die die neueste Telefon-Version ihr Eigen nennen.

Mitten in der Krise boomen auch die Extremsportarten. Immer mehr Menschen stürzen sich angeseilt von Brücken oder mit dem Fallschirm aus Flugzeugen, rauschen im Kajak Wasserfälle hinunter oder rennen japsend durch glühende Wüsten. Und nicht alle überleben diese Abenteuer.

Der Adrenalinstoß soll sie aus einer Welt herausreißen, in der es um die Risiken der Währungsunion, um Arbeitsplatzabbau und Altersvorsorge geht. Jedem seien die kurzen Freunden dieses Eskapismus gegönnt - nur wird wohl so ziemlich jeder am Ende von dem grauen Alltag eingeholt werden, vor dem er so dynamisch geflohen ist.

Die Sucht nach neuen Endgeräten oder die Flucht aus dem alten Leben lassen sich unter dem Begriff Hedonismus subsumieren. Damit ist gemeint, dass ein Mensch vor allem nach sinnlichen Vergnügungen und Genuss strebt und dabei Problemen, Schmerz und Leid möglichst ausweicht - was alsegoistisch gilt.

Nun kann jeder mit seinem Leben machen, was er will, sofern er damit andere nicht beeinträchtigt. Die Frage ist, ob solche geballten Erscheinungen ein historischer Normalfall sind - oder bedenkliche Symptome für "spätrömische Dekadenz", um ein Zitat unseres Außenministers zweckzuentfremden. Ist es einfach ein nachvollziehbarer Akt der Befreiung oder ein Tanz auf dem Krisen-Vulkan?

Eine Meldung, die zeitgleich in den Medien auftauchte, vermag die Dimensionen wieder etwas geradezurücken. Der schwedische Möbelproduzent Ikea - der mit dem Elch und dem Inbusschlüssel - musste einräumen, dass er aus seinem Katalog für Saudi-Arabien und einige Emirate alle Frauen kurzerhand wegretuschiert hat.

Nun wissen wir zuverlässig, dass es in Saudi-Arabien durchaus Frauen gibt. Sie spielen im ultrastrengen wahabitischen Islam nur eine gänzlich andere Rolle als bei uns. Sie dürfen unter anderem nicht Auto fahren und offenbar auch nicht als erkennbar weibliches Wesen in einem Katalog auftauchen.

Wenn das Streben nach hippenMobiltelefonen und Bungeeabsprüngen damit erklärt wird, dass für diese Menschen alle Grundbedürfnisseerfüllt sind und sie sich nach Adrenalinausschüttung sehnen, dann kann man feststellen, dass für einige Milliarden anderer Menschen auf der Welt die Grundbedürfnisse noch keineswegserfüllt sind. Und eine Frau, die sich in Saudi-Arabien illegal ans Steuer setzt, kann weitaus mehr erleben und deutlich mehr Adrenalin ausschütten, als ihr lieb ist.