Bürgermeister Olaf Scholz über prekäre Arbeitsverhältnisse bei der Stadt, Mindestlöhne - und Fehler bei den Hartz-Reformen.

Hamburg. Der Bürgermeister hat es eilig. Nicht im Interview mit den Abendblatt-Redakteuren, aber mit gesetzlichen Regelungen zum Mindestlohn und zur Leiharbeit: Sie sollen noch in diesem Jahr beschlossen werden.

Hamburger Abendblatt: Herr Scholz, von wem stammt das Zitat ,Alle Beschäftigten sind vor Dumpinglöhnen zu schützen. Unfaire Löhne sind eine der größten Bedrohungen des sozialen Friedens und des sozialen Zusammenhalts'?

Olaf Scholz: Das haben viele gesagt. Ich könnte das auch gesagt haben, und es ist auch immer noch richtig.

Sie haben es am 13. Juni dem DGB gesagt. Warum handelt die Stadt dann nicht nach diesem Prinzip?

Scholz: Die Stadt hat mit ihrem neuen Senat eine Regierung bekommen, die nach diesem Prinzip handeln wird. Wir haben bereits eine ganze Reihe von Maßnahmen vorbereitet, damit der zitierte Grundsatz auch in Hamburg gilt.

Konkret?

Scholz: Wir werden in Hamburg einen Mindestlohn von 8,50 Euro durchsetzen. Noch in diesem Jahr werden wir ein entsprechendes Landesmindestlohngesetz in die Bürgerschaft einbringen. Es wird gelten für unsere eigenen Beschäftigten sowie für die städtischen Unternehmen und Auftragnehmer, die Dienstleistungen für die Stadt erbringen. Darüber hinaus werden wir dafür Sorge tragen, dass es Leiharbeit nur dann gibt, wenn es um die Bewältigung von Auftragsspitzen geht. Und wir werden dafür sorgen, dass Leiharbeiter genauso viel Geld bekommen wie die Stammbelegschaft in den Betrieben, in denen sie eingesetzt werden.

Wussten Sie, dass die Stadt an so vielen Stellen prekäre Beschäftigungsverhältnisse hat?

Scholz: Dass wir auf diesem Gebiet etwas tun müssen, war mir klar. Einzelne Beispiele aus Ihrem Artikel waren mir natürlich nicht bekannt. Dass es Menschen gibt, die nicht von der Arbeit leben können, die sie geleistet haben, ist eine moralische Untergrabung der Grundprinzipien unserer Gesellschaft. Nichts verletzt die Ehre so sehr wie der Umstand, dass man den ganzen Monat Vollzeit arbeitet und am Ende dennoch öffentliche Unterstützung in Anspruch nehmen muss. Wenn ich mich anstrenge, muss ich auch zurechtkommen. Das ist ein Grundsatz, der für jeden in unserer Gesellschaft Geltung haben muss.

Die Stadtreinigung zum Beispiel hat Töchterfirmen gegründet, um Geld zu sparen. Müllmänner, die weitgehend die gleiche Arbeit verrichten wie die Kollegen vom Mutterkonzern, verdienen 500 Euro im Monat weniger. Warum lässt die Stadt das zu?

Scholz: Diese Ausgliederungen sind Folge von Entscheidungen, die vor vielen Jahren getroffen wurden. Das Tochterunternehmen Wert GmbH, zuständig für die Wertstoffeinsammlung wie etwa Leichtverpackungen, nimmt am Wettbewerb teil. Es arbeitet seit jeher in einem anderen abfallwirtschaftlichen Segment. Für den Zuschlag bei den dualen Systemen etwa ist der Preis, den unser Unternehmen bieten kann, entscheidend. Klar ist: Auch da müssen Tarifverträge und Mindestlöhne beachtet werden. Und es ist auch klar, dass das Unternehmen nicht ein Instrument sein kann, um bei der Stadtreinigung niedrigere Löhne durchzusetzen.

Dass sich die Wert GmbH nur im freien Wettbewerb bewegt, stimmt mit unseren Recherchen nicht überein: Demnach betreut die Wert GmbH für die Stadtreinigung die blaue Tonne - und die gehört zum öffentlich-rechtlichen Entsorgungsauftrag. Die Beschäftigten müssen in ihren Arbeitsverträgen zustimmen, intern an die Stadtreinigung verliehen zu werden. Sehen Sie da gar keine Probleme?

Scholz: Diesem Missstand würde mit unserer Neuregelung der Boden entzogen. Es gilt hier künftig: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Noch einmal zur blauen Tonne: Über dieses Entsorgungsgeschäft ist mit einem privatwirtschaftlichen Wettbewerber ein Prozess anhängig.

Anderes Unternehmen, gleiches Muster: Die Vereinigung Hamburger Kindertagesstätten hat den Hauswirtschaftsbereich in eine Servicetochter ausgegliedert - dort gibt es nicht einmal einen Tarifvertrag. Zwischen Mutter und Tochter existieren Gehaltsunterschiede von bis zu 30 Prozent. Wollen Sie das ändern?

Scholz: Überall müssen Tarifverträge gelten. Das muss nicht immer der Tarif des öffentlichen Dienstes sein. Es kann auch in Ordnung sein, dass man nach einem Tarifvertrag der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten bezahlt wird. Mir ist gesagt worden, dass heute ein Lohn gezahlt wird, der über dem Gaststättentarif liegt. Und es finden gerade Verhandlungen über einen Haustarif für die Beschäftigten mit Ver.di statt. Die Stadt darf kein Lohndrücker sein.

In das Kita-System ist viel Geld geflossen, weil Sie es versprochen haben. Das Essen ist gratis, es gibt ein beitragsfreies Jahr. Werden die Wahlversprechen auf Kosten der Arbeitnehmer eingelöst?

Scholz: Nein. Und es wird nicht dazu kommen.

An den Asklepios-Kliniken Hamburg ist die Stadt mit 25,1 Prozent beteiligt. In Tochterunternehmen werden Niedriglöhne gezahlt, es gibt interne Leiharbeitsfirmen und tariflose Zustände. Warum versucht die Stadt nicht, ihre Anteile zu nutzen und mehr Einfluss zu nehmen?

Scholz: Es war ein großer Fehler des CDU-Senats und des damaligen Bürgermeisters, den Landesbetrieb Krankenhäuser zu verkaufen. Übrigens gegen den erklärten Willen der Hamburger Bürgerinnen und Bürger. Ein zentraler Einwand der SPD war damals: Das wird Auswirkungen auf die Löhne und die Arbeitsbedingungen in den Kliniken haben. So ist es auch gekommen.

Werden Sie denn Ihren Einfluss auf Asklepios anders nutzen?

Scholz: Wir halten unseren Anteil von 25,1 Prozent. Eine Privatisierung dieses restlichen Anteils wird es nicht geben. Selbstverständlich ist es Sache der städtischen Vertreter, dafür Sorge zu tragen, dass Tarifverträge eingehalten werden. Darauf können wir hinwirken. Und das werden wir auch tun.

Warum haben städtische Unternehmen eigentlich eigene Leiharbeitsfirmen?

Scholz: Wir haben uns entschlossen, im Rahmen der Richtlinie zur Leiharbeit sicherzustellen, dass das in keinem Fall ein Instrument des Lohndumpings ist. Leiharbeit ist kein Instrument, um Tarifbestimmungen zu umgehen. Ob nun von einer eigenen Leiharbeitsfirma oder einer fremden.

Sind denn die Tarifverträge der Zeitarbeitsbranche gute Tarifverträge?

Scholz: Ursprünglich hatte man gedacht, dass die Löhne in der Zeitarbeit steigen, wenn in den Unternehmen Tariflöhne gelten. Eingetreten ist das Gegenteil: Es wurden Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften gegründet und Tarifverträge für die Zeitarbeitsbranche gemacht - mit niedrigeren Löhnen. So wurde die Tarifautonomie missbraucht: als ein Instrument zur Verschlechterung. Das muss sich ändern.

Es waren die Hartz-Reformen der rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder, die diese Entwicklungen möglich gemacht haben. Sie waren damals SPD-Generalsekretär. Bereuen Sie diese Entwicklung?

Scholz: Die Reformen waren wichtig und richtig. Die sozialen Sicherungs-systeme sind stabilisiert. Das siehtman daran, dass sie Überschüsse erwirtschaften. Es gibt aber Entscheidungen, etwa bei der Leiharbeit, die korrigiert werden müssen. Das Gegenteil dessen, was sich entwickelt hat, war gewollt.

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Leiharbeit reguläre Beschäftigung verdrängt. Warum schafft man Leiharbeit nicht einfach ab?

Scholz: Das wäre nicht klug. Leiharbeit ist dort sinnvoll, wo es Auftragsspitzen gibt, wo ein Mitarbeiter krank geworden ist, wo das Weihnachtsgeschäft mehr Mitarbeiter erfordert. Leiharbeit darf aber nicht eingesetzt werden, um billige Löhne zu zahlen.

Viele Leiharbeiter arbeiten nicht kurz, sondern lange für die Stadt. Das ist doch keine Auftragsspitze, oder?

Scholz: Leiharbeit darf nur eine vorübergehende Tätigkeit sein - und keine Dauertätigkeit. Das werden wir zum Gegenstand unserer Richtlinie für die Beschäftigung von Leiharbeitskräften machen.

Bislang gibt es eine Leiharbeitsrichtlinie für Behörden und Ämter - aber nicht für städtische Betriebe und deren Tochterunternehmen. Wann kommt diese Richtlinie?

Scholz: Dieser zweite Teil wird bis Ende des Jahres umgesetzt.

Die von Ihnen vorgeschlagenen 8,50 Euro werden bei vielen nicht zum Leben reichen - und schon gar nicht für ein würdevolles Leben im Alter. Was bringt das Ganze dann überhaupt?

Scholz: Ich bin für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in Deutschland. Klar ist: 8,50 Euro pro Stunde - das ist nicht viel Geld. Wer den Mindestlohn bekommt, bekommt bitter wenig und kann keine großen Sprünge machen. Aber es ist immerhin ein besserer Schutz gegen den freien Fall nach unten, als den, den wir in Deutschland im Moment haben.

Es gibt viele Beschäftigte, auch städtische, die auf Hartz IV angewiesen sind, obwohl sie arbeiten. Für den Staat ist das eigentlich ein Nullsummenspiel. Warum bezahlt die Stadt diese Menschen nicht so gut, dass sie nicht aufstocken müssen?

Scholz: Löhne sind eine Frage von Tarifverhandlungen. Das ist der richtige Ort dafür, die richtigen Bemessungen zu finden. Übrigens: Die wenigsten der Aufstocker in Hamburg arbeiten bei der Stadt - und dann handelt es sich in der Regel um Teilzeitbeschäftigte.

Muss die Stadt nicht im Zweifelsfall Vorbild sein - und mehr zahlen?

Scholz: Die Stadt muss Vorbild sein. Tarifverträge sind unabdingbar.

Jeder fünfte Job befindet sich bereits im Niedriglohnbereich, die Tendenz ist steigend. Die soziale Schere geht seit Jahren auseinander. Wie viele prekäre Arbeitsverhältnisse hält eine Gesellschaft aus?

Scholz: Wir brauchen in Deutschland einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn als Grenze für alle. Wir brauchen mehr Arbeitsverhältnisse, die durch Tariflöhne geregelt werden. Und wir brauchen auch moderate Einnahmeverbesserungen des Staates, etwa bei der Besteuerung sehr hoher Einkommen. Der Abbau der Staatsschulden ist eine Last, und die soll nicht von denen geschultert werden, die wenig haben - sondern stärker von denen, die über hohe Einkünfte verfügen.

Dass Sie sich Sorgen um die Entwicklung der Gesellschaft machen, haben Sie nicht gesagt ...

Scholz: Der Senat handelt, weil die vorgefundenen Verhältnisse nicht in Ordnung sind. Allerdings gibt es immer zwei Wege: Man kann den Gang der Welt als Apokalypse wahrnehmen und beklagen. Oder man kann fragen: Was muss man tun, damit es gut ausgeht? Ich bevorzuge den zweiten Weg.