Der Rechtsanspruch für Zweijährige gilt nicht für alle gleichermaßen. Eltern behinderter Kinder in Hamburg fühlen sich unfair behandelt.

Hamburg. Als Paul vor vier Monaten zur Welt kam, war sofort klar, dass sich das Leben seiner Eltern schlagartig ändern würde. Die Diagnose: Trisomie 21, das sogenannte Downsyndrom. Mittlerweile haben Susann Rosenfeld und Michael Gottschalk ihr Leben auf die Bedürfnisse ihres Sohnes eingestellt. Susann Rosenfeld ist aus ihrem Job als Erzieherin ausgestiegen, Familie und Freunde helfen, wo sie können. Zwei Jahre will sich Rosenfeld zu Hause in Winterhude-Nord um ihren Sohn kümmern. Dann soll Paul in eine Kindertagesstätte kommen, und Rosenfeld will zurück in ihren Job gehen. So hatte es die 27-Jährige geplant, denn schließlich haben seit dem 1. August alle Zweijährigen in Hamburg einen Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz. Doch dann erfuhr Rosenfeld, dass diese Neuregelung für Paul aufgrund seiner Behinderung nicht gilt. Es ist ein Problem, mit dem sich derzeit viele Eltern behinderter Kleinkinder in Hamburg auseinandersetzen müssen.

Denn Kinder mit Behinderungen - und damit erhöhtem Förderbedarf - haben ein sogenanntes "Recht auf Eingliederungshilfe". Dieses Gesetz regelt die Finanzierung der Kosten für den pädagogischen Mehraufwand und nötige Therapien. Das Problem ist jedoch: Eingliederungshilfe für einen Kita-Platz gibt es laut Gesetz erst ab dem dritten, anstatt dem zweiten Lebensjahr.

"Ich fühle mich ungerecht behandelt", sagt Rosenfeld, mit Blick auf die Aussicht, erst ein Jahr später als andere Mütter in den Job zurückkehren zu können. Außerdem benötige Paul so früh wie möglich Förderung, sagt Rosenfeld. "Wir müssen jetzt schon mit ihm üben, an den Fingern zu nuckeln. Das machen andere Kinder seines Alters von alleine."

Hamburg habe sich bei seinen Bemühungen um Kita-Plätze für Zweijährige selbst überholt, sagt Oliver Kleßmann. Der Sprecher der Sozialbehörde meint damit, dass Hamburg zwar das erste Bundesland ist, dass den Rechtsanspruch ab zwei Jahren durchgesetzt hat - bundesweit gilt er erst vom 1. August 2013 an. Doch daneben wurden die Gesetze zur Eingliederungshilfe noch nicht angepasst. "Derzeit verhandelt der Senat mit den Krankenkassen über die Übernahme der therapeutischen Kosten", sagt Kleßmann. Der Senat rechnet mit einer zusätzlichen Belastung für den Haushalt von 4,5 bis 5 Millionen Euro, wie aus einer Kleinen Anfrage der GAL hervorgeht.

Für Hamburger Eltern, die ihre behinderten Kinder schon vor dem dritten Lebensjahr in die Tagesbetreuung geben wollen, gerät der Versuch mitunter zur nervlichen Zerreißprobe.

Wie schwierig es wirklich ist, sein behindertes Kind in die Betreuung zu geben, hat Cornelia Schenke erfahren. Sie ist Mutter von drei Kindern. Ihr Sohn Andrij kam vor vier Jahren mit einem schweren Gehirnschaden zur Welt. Er kann nicht sprechen, hat motorische Defizite und eine Sehbehinderung. Bereits mit einem halben Jahr erhält er eine Frühförderung. "Insbesondere am Anfang war es schwer, die vielen Arzt- und Therapietermine mit dem Familienleben unter einen Hut zu bringen", sagt Schenke. Sie und ihr Mann telefonieren deshalb mit einem Dutzend Kitas, wollen Andrij frühzeitig dort unterbringen. "Wenn ich erwähnte, dass Andrij behindert ist, war das Gespräch zumeist schnell beendet", sagt Schenke. Wie alle Kinder bekommt Andrij einen Kita-Gutschein. Doch Fördergelder, die den personellen Mehraufwand abdecken, gibt es erst vom dritten Lebensjahr an. Weil ein schwer behindertes Kind wie Andrij aber Personal bindet, ist es den meisten Kitas ohne zusätzliche Fördermittel nicht möglich, Andrij aufzunehmen. Diese Ablehnung zu erfahren sei "schlimm" gewesen, sagt Schenke. Hoffnung gibt es erst wieder, als sie im Kinderladen Himmelstraße in Winterhude anfragt. Sozialpädagogin Corinna Oltmanns und ihre beiden Kolleginnen erklärten sich bereit, Andrij aufzunehmen. Die Pädagoginnen geben ihre Zusage abseits aller Regelungen. Den Mehraufwand schultern sie neben dem normalen Kita-Alltag. Die anderen Kinder müssen da auch mal zurückstecken. "Wenn man nur den finanziellen Aspekt sieht, haben wir uns selbst ausgebeutet", sagt Oltmanns. Sie hilft trotzdem. "Weil die derzeitige gesetzliche Lage einfach menschlicher Unsinn ist", findet die Sozialpädagogin.

Cornelia Schenke hat ihren Sohn seit dem vollendeten dritten Lebensjahr in einer sonderpädagogischen Einrichtung untergebracht. Sie hofft dennoch auf eine baldige gesetzliche Lösung. "Für die Beziehung der Eltern und damit auch für die Kinder ist es eine große Belastungsprobe." Schenke lebt mittlerweile von ihrem Mann getrennt. An eine schnelle Lösung glaubt sie nicht. Aus ihrer Sicht würde sich erst dann etwas bewegen, "wenn Eltern auf ihren Anspruch auf einen Kita-Platz ab dem zweiten Lebensjahr klagen". Ob bereits Klagen eingereicht wurden, darüber konnte die Sozialbehörde keine Auskunft geben.