Die Arbeitsrechtlerin Reingard Zimmer erklärt, wie sich prekäre Beschäftigung auswirkt

Prekäre Beschäftigung breitet sich in Deutschland aus. Die Niedriglohngrenze liegt derzeit bei einem Bruttostundenlohn von 10,36 Euro. Laut Statistischem Bundesamt arbeitet jeder fünfte Deutsche bereits für einen Niedriglohn. Besonders hoch ist der Anteil der Niedriglöhner bei Taxifahrern, Friseuren, Reinigungskräften und im Hotel- und Gaststättengewerbe.

Die Hamburger Arbeitsrechtlerin Reingard Zimmer beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema prekäre Beschäftigung. Mit dem Abendblatt sprach sie über Gewinner und Verlierer von Leiharbeit und die Auswirkungen der aktuellen Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt.

Hamburger Abendblatt:

Wann spricht man von prekärer Beschäftigung?

Reingard Zimmer:

Prekäre Beschäftigung liegt vor, wenn das Beschäftigungsverhältnis nicht geeignet ist, auf Dauer den Lebensunterhalt des Beschäftigten einschließlich der sozialen existenzsichernden Absicherung zu gewährleisten. Es ist durch eine große Unsicherheit bei den Arbeitnehmern gekennzeichnet. Unsicherheit in Bezug auf den Lohn und auf die Absicherung im Alter. Unsicherheit aber auch hinsichtlich ausufernder Flexibilität: Viele Arbeitnehmer können ihr Arbeitsleben nicht mehr so wie früher planen. Sie nehmen zudem oftmals ihre Rechte als Arbeitnehmer nicht wahr, weil sie Angst haben, zum Beispiel als befristet Beschäftigte keinen neuen Vertrag zu bekommen. Je größer die Komponente der Unsicherheit ist, desto prekärer ist die Beschäftigung.

Hamburg setzt auch bei öffentlichen Aufgaben auf Leiharbeiter. Rechnet sich das Modell?

Zimmer:

Untersuchungen zeigen, dass Leiharbeiter bis zu 40 Prozent weniger verdienen als die Stammkräfte, die eine gleiche Tätigkeit ausüben. 11,5 Prozent aller Leiharbeiter in Deutschland müssen aufstocken, in der Gesamtwirtschaft sind nur 2,6 Prozent betroffen. In Bezug auf Leiharbeit bedeutet das: Die Allgemeinheit muss den Profit dieses Geschäftsmodells durch Sozialleistungen finanzieren. Den Profit des Unternehmens, das so niedrige Löhne zahlt.

Firmen lagern bestimmte Tätigkeiten an Leiharbeitsfirmen aus. Es sind teilweise die gleichen Mitarbeiter, die die gleiche Tätigkeit zu einem niedrigen Lohn verrichten. Was kann die Politik tun?

Zimmer:

Die Politik hat schon reagiert und das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz im vergangenen Jahr überarbeitet. Wenn ein entlassener Arbeitnehmer innerhalb von sechs Monaten als Leiharbeitnehmer an seine alte Arbeitsstätte zurückkehrt, muss er den gleichen Lohn bekommen wie beim Entleiher selbst Beschäftigte. Doch das Gesetz hat Lücken: Wird auf einen anderen Leiharbeitnehmer zurückgegriffen, der vorher nicht in dem Unternehmen oder Konzern tätig war - gilt diese Regelung für ihn nicht. Und: Nach sieben Monaten kann auch der ehemalige Mitarbeiter als Leiharbeitnehmer eingesetzt werden. Das Gesetz ist in vielerlei Hinsicht völlig unzulänglich.

Firmen argumentieren, dass sie mit Leiharbeitern ihre Stammbelegschaften stabil halten. Sehen Sie das auch so?

Zimmer:

Für Vertretungen oder Engpässe ist Leiharbeit eine flexible Form der Beschäftigung, die Sinn macht. Für die Breite, in der sie jetzt angewandt wird, ist es ein Modell, um auf Kosten der Allgemeinheit die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten zu verschlechtern. So etwas braucht man nicht.

Was sagt die aktuelle Entwicklung über die Zukunft der Arbeit aus?

Zimmer:

Das Normalarbeitsverhältnis ist nicht mehr überall die vorherrschende Beschäftigungsform. Es gibt eine Aufspaltung in einen Teil von Beschäftigten, die gut abgesichert sind, und einen immer größer werdenden Teil, für den das nicht mehr gilt. Das bedeutet eine Entrechtung, die Arbeitsbedingungen verschlechtern sich. Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft gehen verloren. Da steckt gesellschaftlicher Zündstoff drin.

Was kann die Stadt Hamburg tun?

Zimmer:

Die Stadt kann dort etwas tun, wo sie selbst beschäftigt und selbst Leistungen einkauft. Dort lassen sich soziale Komponenten einbringen. Im Vergabegesetz können soziale Kriterien aufgeführt werden. Berlin zum Beispiel schreibt Auftragnehmern eine Förderung von Frauen und die Schaffung von Ausbildungsplätzen vor, Bremen fordert zusätzlich die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen. Rheinland-Pfalz fördert Auftragnehmer, die Langzeitarbeitslose einstellen. Hamburg hat solche Regelungen noch nicht. Es ist sinnvoll, einen vergabespezifischen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro einzuführen - Bremen hat ihn bereits.