Hanseat hielt auf Tausenden Zetteln das Wissen seiner Zeit fest. Sein Nachlass gibt Einblicke in ein Forscherleben im 17. Jahrhundert.

Sollte er oder sollte er nicht? Bevor Doktor Joachim Jungius 1629 nach Hamburg zog, wird er lange überlegt haben. Er stand vor einer typischen Karriere-Entscheidung der frühen Neuzeit: Nach dem Studium der Philosophie in Rostock hatte er schon im Alter von 22 Jahren in Gießen eine Professur für Mathematik angetreten, zehn Jahre später in Padua den Doktortitel in Medizin erworben, hatte als Professor Mathematik an der Universität Rostock und Medizin in Helmstedt gelehrt. Bis der Dreißigjährige Krieg diese Laufbahn beendete: Die Universität Helmstedt wurde geschlossen.

Die akademischen Weihen, die Hamburg zu bieten hatte, waren da nicht ganz so verheißungsvoll. Hamburg hatte keine Universität, sondern "nur" ein Akademisches Gymnasium, das erst 1613 feierlich eröffnet worden war und wieder einen Rektor suchte. Es bereitete junge Patriziersöhne auf ein Studium vor, bot aber keine akademischen Abschlüsse.

Dennoch hatte Hamburg zwei Vorteile. Erstens bewahrten die neuen Wallanlagen, die der Rat zwischen 1616 und 1625 bauen ließ, Hamburg vor den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges. Es erlebte auch keinen dauerhaften wirtschaftlichen Niedergang. Zweitens: Hamburg bot neben freiem Logis ein stolzes Jahresgehalt, 1000 Mark lübisch nach der einheitlichen Münzwährung in Hamburg, Lübeck, Rostock und einigen anderen Hansestädten. Jungius sagte zu.

Von 1629 bis zu seinem Tod 1657 wirkte er als Rektor des Akademischen Gymnasiums und des Johanneums, der Lateinschule. Und offenbar waren das nicht nur intensive Forschungs-, sondern auch angenehme Lebensjahre. Das schließen Forscher aus Jungius' Nachlass, den heute die Staats- und Universitätsbibliothek aufbewahrt: mehr als 50 000 handgeschriebene Notizzettel mit Studien, Exzerpten, Aufsätzen, Vorlesungen, Zeichnungen, Briefen und Berechnungen.

Eine Auswahl zeigt die Staatsbibliothek jetzt zu Jungius' 425. Geburtstag in der Ausstellung "Der Zettelkasten des Doktors". Der Nachlass spiegele "die Wissenslandschaft einer ganzen Epoche", sagt die Bibliotheksdirektorin Prof. Gabriele Beger. Deshalb fördert die Deutsche Forschungsgesellschaft ein Projekt, mit dem Jungius' Zettel-Nachlass nun digitalisiert und online zur Verfügung gestellt werden soll.

Das Sichten und Ordnen der Zettel ist, gelinde gesagt, Fronarbeit. Jungius schrieb mal in Latein, mal in Deutsch und mixte auch beides. "Seine Schrift ist nicht leicht zu lesen", sagt Projektmitarbeiter Eike-Christian Harden, der darin allerdings inzwischen Übung hat.

Harden weiß über Jungius so ziemlich alles. Zum Beispiel, wo er gewohnt hat: an der Kleinen Alster am heutigen Rathausmarkt, wo im früheren St.-Johannis-Kloster das Johanneum und Akademische Gymnasium untergebracht waren. Und Jungius kam nicht allein: Er brachte seine Ehefrau Katharina, geborene Havemann, aus Rostock mit. Allerdings, sagt Harden, beherbergte er keine Schüler in seiner Wohnung, wie es sonst für Professoren üblich war, siehe Martin Luther.

Die Qualifikation eines Professors wie Jungius dürfte heutige Studierende eher amüsieren. Zum klassischen Wissenskanon neben den Universitätsfächern Theologie, Recht und Medizin gehörten die "sieben freien Künste": Grammatik (Lehre der lateinischen Sprache), Rhetorik als Lehre vom Redestil, Logik als Lehre der Beweisführung, außerdem Arithmetik (Zahlentheorie), Geometrie, Astronomie und Musik, also die Kenntnis der Tonarten. Natürlich hätte schon damals kein Superhirn ausgereicht, um diesen Wissenskanon zu beherrschen. Universitätsgelehrte spezialisierten sich.

"Aber was Jungius vorschwebte, war das Ideal des Polyhistors, des universell gebildeten Gelehrten", sagt Claudius Herkt-Januschek von der Staatsbibliothek. "Er hatte die Vorstellung einer Einheit der Wissenschaften." Jungius selbst stand als Philosoph, Mediziner und Mathematiker für eine Verbindung verschiedener Disziplinen. In Hamburg überarbeitete er ein Lehrbuch über Logik ("Logica Hamburgensis"). Er befasste sich mit Licht, Optik und musikalischer Harmonielehre. "Der Mann war Mathematiker und Logiker von Haus aus, hat sich aber mit freiem Sinn der lebendigen Natur ergeben und seiner Zeit vorschreitende Arbeiten geliefert", schrieb Johann Wolfgang Goethe, der Jungius sehr bewunderte: Er sei "ein Zeitgenosse Bacons, Descartes' und Galileis gewesen" und habe sich in seinen Studien und Lehren "sehr originell" gezeigt.

In Jungius' Welt wurden für viele Gesetze der "Natur" immer noch religiöse und mythische Erklärungen bemüht. Was Jungius suchte, war jedoch ein naturwissenschaftlich fundiertes Konzept der Naturerkenntnis. Die Natur habe "gewisse Gesetze" in ihre Funktionsprinzipien gelegt, schrieb er. Die Erforschung dieser Prinzipien und nicht die Spekulation sei Grundlage aller Erkenntnis.

In seinem Werk "Doxoscopiae Physicae Minores" zum Beispiel verwarf er die vier Elemente Feuer, Erde, Luft und Wasser, die man seit der Antike vermutete, und die drei Elemente der Alchemie - Salz, Schwefel, Quecksilber - und definierte chemische Elemente als nicht weiter zerlegbare Stoffe. Damit widersprach er der verbreiteten Idee der Alchemisten, man könne durch Umwandlung anderer Metalle Gold gewinnen.

Jungius notierte alles auf grauen, oft nur postkartengroßen Zetteln. Papier war eine knappe Ware, deshalb benutzte er viele Zettel ein zweites oder drittes Mal, sogar die Rückseiten alter Schülerarbeiten - für die Ordner seines Nachlasses ein Albtraum. Aber an seinen Zetteln lässt sich ablesen, dass es buchstäblich nichts gab, für das er sich nicht interessierte. Jungius fertigte Auszüge aus der damaligen Fachliteratur an. Er entwarf Befestigungsanlagen ebenso wie Rechenmaschinen, deren Details er bis zum kleinsten Zahnrad sorgfältig aufzeichnete. Er experimentierte mit mathematischen Gleichungen, geometrischen Berechnungen, Spiegelungen, korrespondierte mit namhaften Wissenschaftlern überall in Deutschland. "Durch seine Briefwechsel hat er Hamburg praktisch auf das Niveau der wissenschaftlichen Elite gehoben", sagt Herkt.

Aber Jungius war auch ein praktischer Mensch. Rund 5500 seiner Zettel befassen sich mit seinen Gärten - und hier zeigt der Gelehrte noch ein ganz anderes Gesicht: Er war leidenschaftlicher Gartenfreund. Offenbar hatte er in Hamburg drei Gärten: einen privaten "Küchengarten" oder "Kuchenhoff" als Nutzgarten an seinem Wohnhaus, einen Vorstadtgarten ("suburbano") für Zierpflanzen vermutlich vor den Toren in St. Georg und den Schulgarten ("scholastico").

Akribisch fertigte Jungius Zeichnungen an. Der Küchengarten: 17 Beete entlang eines Mittelwegs, am Eingang ein überranktes "Portahl", gegenüber ein Birnbaum, ein kleines Gartenhaus ("heußlin"). In jedes eingezeichnete Beet schrieb Jungius, welche Pflanzen er dort zog: Kerbel (kervel), Meerrettich (marredig), Estragon (Dragühn), Zwiebeln (Zipollen), Spargel (spargen), Spinat (Spinasie), Salat (Laktuk), Kohl und Speisemöhren (gele Wortel).

Der Ziergarten ähnelte schon eher einer barocken Anlage mit einem quadratischen Mittelbeet, eingefasst von vier symmetrischen Winkelbeeten. Im großen Staudenbeet in der Mitte wuchsen Malven, Brennende Liebe und Katzenminze - noch heute aus keinem Barockgarten wegzudenken. Seine Tomaten bezeichnete Jungius als "Liebesäpfel" ("poma amoris"); sie galten als Zierstrauch, als Gemüse wurden sie in Europa erst 200 Jahre später entdeckt.

Direkt ans Haus holte er auch damalige Kostbarkeiten, wie sein "Diarium Hortense" (Gartentagebuch) zeigt. Im Oktober 1641 etwa setzte er dort Zwiebeln von Tulpen, Arabischem Milchstern, Schachbrettblumen, "Lilium Alexandrinum" und Kaiserkronen. Samen und Knollen solch teurer Exoten bezog er unter anderem von Hamburgs damals berühmtestem Gartengestalter Hans Meilan, der in Italien gelernt hatte. Eine Mark lübisch entsprach 16 Schillingen. Jungius listete auf, dass er an Meilan zwei Schillinge für Rizinussamen zahlte, so viel wie für ein Pfund Rindfleisch; je einen Schilling für Majoran, Thymian, Basilikum; Kaiserkrone und Milchstern waren nicht unter zwei oder drei Mark zu haben - der Tageslohn eines Maurergesellen.

Unter der Überschrift "Ars Botanica" (etwa: die Kunst des Pflanzens) verfasste Jungius Regeln zur Behandlung verschiedener Zwiebel- und Knollenpflanzen, zur Bearbeitung des Bodens, zur Bewässerung und Düngung. Offenbar beschäftigte er zumindest in seinem Küchengarten einen Gärtner - der natürlich auch mit Zetteln eingedeckt wurde: "Nach der pumpe sehen ob mangel an waßer; Mist, loh, erd einschuwen ..." oder "Baum und Kraut begießen, Seen (sähen), plantzen".

Bei all seiner Wissenschafts- und Gartenbegeisterung bleibt ein Thema merkwürdig blass: Jungius' Ehe. Katharina Jungius litt offenbar unter Depressionen, sagt Eike-Christian Harden. Um 1637 fuhr sie zurück zu ihrer Familie nach Rostock, "zur Genesung". Im Nachlass ist ein Brief des Rostocker Arztes Christian Schmilow erhalten, der Jungius am 18. März 1637 berichtete, "dass es gottlob viel besser mit ihr sei, als es in Hamburg gewesen ist, aber es bleibt noch ein falsches Einbilden und etwas Unmut wegen des Herrn (Jungius), und ... er möge ein oder mehrere freundliche Schreiben senden, worin er seine Sorge, Liebe und Verlangen wegen seiner Hausfrau erklärt".

Das klingt, als habe Jungius seine Frau über all den Zetteln, Zeichnungen und Gartenregeln völlig vergessen. Briefe an sie sind nicht erhalten. Katharina starb kinderlos am 16. Juni 1638 in Rostock, sie war nicht nach Hamburg zurückgekehrt. Joachim überlebte sie um 20 Jahre. In Wahrheit war er wohl mit der Wissenschaft verheiratet.

Der Zettelkasten des Doktors Staats-und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Von-Melle-Park 3, 20146 Hamburg, Mo-Fr 9-21 Uhr, Sa + So 10-21 Uhr, bis 28.10., Eintritt frei