Einem amerikanischen Besucher in Hamburg ist der Umgang der Deutschen mit ihren Nationalsymbolen nur schwer zu erklären

"Howard - wie viele Fahnen siehst du?", fragte ich meinen amerikanischen Freund, der mich mit seiner Frau neulich ein paar Tage besuchte.

Wir saßen auf der Dachterrasse eines Restaurants an der Elbe in der Abendsonne. Howard sah sich um, ließ seinen Blick über Elbe und Stadt schweifen und sagte dann: "Wow! Wirklich eine ganze Menge." "Ja", sagte ich. In der Tat: Vor allem Fahnen der Hansestadt und von Unternehmen und Schifffahrtslinien flatterten da munter. Dann hakte ich nach: "Und wie viele deutsche Bundesfahnen siehst du?" Howard guckte lange, dann antwortete er ungläubig: "Keine einzige!" Dem Dialog folgte schließlich ein engagiertes Gespräch über den meiner Ansicht nach übersteigerten Patriotismus der Amerikaner und den seiner Ansicht nach völlig unterentwickelten Patriotismus der Deutschen.

"Ihr tut mir sehr leid", meinte Howard. Flankierend dazu hatte ein amerikanischer Journalist gerade in einer großen deutschen Tageszeitung unser Land als das "unpatriotischste der Welt" etikettiert. Ich erklärte Howard, dass das ganz und gar nicht stimme, die Deutschen liebten ihr Land sehr, nur mit dem Herzeigen nationaler Symbole sei das aufgrund unserer Geschichte so eine Sache.

Bei Welt- und Europameisterschaften im Fußball etwa stünden wir den fahnensüchtigen Amerikanern kaum nach und kleideten sogar die Autospiegel in Schwarz-Rot-Gold. Wenn aber zu normalen Zeiten jemand eine Bundesfahne vor seinem Haus hochziehe, müsse er sich auf die Frage einstellen, ob er eine Bundesbehörde in seinem Wohnzimmer beherberge oder ob er etwa einer jener grässlichen Nationalisten sei, an denen Deutschland nun wirklich keinen Bedarf mehr habe. Howard staunte.

Mir fiel dabei spontan die Erzählung eines Bekannten ein, eines angenehmen und hochgebildeten Mannes, der mal eine Zeit lang eine leitende Funktion in der Deutschen Nationalstiftung hatte. Wenn dieser Mann, nennen wir ihn Hans Weber, sich in Gesellschaft vorstellte: "Weber, Deutsche Nationalstiftung", dann prallte sein Gegenüber oft entsetzt zurück, in der Überzeugung, einem üblen Rechtsextremen gegenüberzustehen. Dabei ist diese Stiftung, die sich der Erhaltung deutscher Kulturgüter verschrieben hat, 1993 von Erzdemokraten wie Helmut Schmidt gegründet worden.

Es hatte wenig Sinn, Howard, der glühender Patriot und strammer Republikaner ist, mit meiner Ansicht zu kränken, dass man in Deutschland jemanden, der etwa in einen Anzug aus der Nationalfahne eingenäht ist, wie dies manche US-Bürger tun, weniger bewundern als vielmehr nervenärztlicher Obhut empfehlen würde.

Dabei muss sich Schwarz-Rot-Gold als schönes Symbol unbändigen Freiheitswillens keineswegs hinter den Stars and Stripes verstecken.

Das überwiegend aus Studenten bestehende Freikorps des Majors von Lützow, das sich 1813 gegen die napoleonische Herrschaft über Deutschland stemmte, bot äußerlich mangels Uniformen ein derart buntgeschecktes Erscheinungsbild, dass die Herren Freiheitskämpfer schließlich ihre Kleidung einheitlich schwarz einfärbten, mit Messingknöpfen und roten Streifen an Ärmeln und Hosen versahen, um ernst genommen zu werden. Militärisch blieb "Lützows wilde verwegene Jagd" ziemlich wirkungslos, aber die Farben der improvisierten Uniformen machten Karriere.

Damals ließen viele ihr Leben für die Vision eines freien, vereinten Deutschlands. Doch heute holen wir die Bundesfarben nur bei besonderen Gelegenheiten heraus; wir gehen mit ihnen um wie mit Weihnachtsschmuck.

Die Deutschen wollen des gefährlichen Nationalismus endlich unverdächtig sein, was man nachvollziehen kann. Pathologisch wird dies aber, wenn etwa Oppositionspolitiker anregen, die Nationalmannschaft solle besser ein paar Spiele verlieren, um andere Staaten nicht zu inkommodieren.

Angesichts dieser Widrigkeiten haben wir längst einen unverfänglichen Ausweg gefunden - und sind Lokalpatrioten geworden. Wer zum Beispiel die Hamburg-Fahne hochzieht, gilt als gänzlich unverdächtig, etwa Truppen aufstellen und in Niedersachsen einfallen zu wollen.

Vor meinem Haus in Wedel, ich gebe es zu, weht allerdings die Fahne Schleswig-Holsteins.