Seit gut 40 Jahren verdrängen Politik und Öffentlichkeit die Probleme des Umlageverfahrens. Das Desaster begann unter Adenauer

Politikern wird in diesem Land gern Unrecht getan: Sie gelten als eitel und selbstsüchtig, angeblich denken sie nicht weiter als bis zum nächsten Wahltermin, erhöhen sich aber regelmäßig die Diäten. Sie predigen Wasser, aber saufen Wein. Wer derlei behauptet, darf sich des Beifalls der Stammtische sicher sein. Blöd ist nur, dass es nicht stimmt. Wer es nicht glauben mag, sollte einen Politiker nur 24 Stunden begleiten - er würde sich rasch in die Behaglichkeit seines Privatlebens zurückwünschen.

Und doch gibt es Themen, da kann man die Ahnungslosigkeit - oder ist es Desinteresse? - der Politik kaum fassen. Seit einigen Tagen diskutiert die Republik aufgeregt über Altersarmut und Zuschussrente. Viele Politiker, aber auch Kommentatoren scheinen gerade erst auf das Thema aufmerksam geworden zu sein. Warum eigentlich? Seit über 40 Jahren bekommen die Deutschen zu wenige Kinder und werden zugleich älter. Vor einem halben Jahrhundert bezogen Rentner im Schnitt zehn Jahre Geld, inzwischen sind es fast 20 Jahre. Die Alterspyramide dreht sich, immer weniger Beitragszahler müssen immer mehr Pensionäre versorgen. Altersarmut kommt da so wenig überraschend wie der Herbst nach dem Sommer, der Kater nach dem Rausch oder die HSV-Niederlage in Bremen. Die Katastrophe hat sich angekündigt. Aber sie wurde 50 Jahre verleugnet, vergessen, verdrängt. Das Versagen begann 1957 unter dem damaligen Kanzler Konrad Adenauer. Er koppelte die Rentenhöhe an die Arbeitseinkommen der Beschäftigten und bediente sich dabei eigentlich einer brillanten Idee - des Konzepts des "Solidarvertrags zwischen den Generationen" des Nationalökonomen Wilfrid Schreiber.

Dummerweise änderte der Bundeskanzler die Idee des Umlageverfahrens in zwei entscheidenden Punkten ab und machte einen Doppelfehler. Schreiber wollte nicht nur alle Erwerbstätigen zahlen lassen, also auch Unternehmer oder Freiberufler, sondern hatte auch ein Drei-Generationen-Modell im Blick: Er wollte eine Rente für Senioren und für Kinder ausschütten - Eltern hätten so eingezahlt und bekommen, Kinderlose mehr getragen. Ohne politisch korrekte Rücksicht schrieb Schreiber damals: "Wer kinderlos oder kinderarm ins Rentenalter geht und, mit dem Pathos des Selbstgerechten, für gleiche Beitragsleistungen gleiche Rente verlangt und erhält, zehrt im Grunde parasitär an der Mehrleistung der Kinderreichen, die seine Minderleistung kompensiert haben."

Aber es galt, eine Wahl zu gewinnen: Der 80-jährige Adenauer strich die Kinder aus dem Generationenvertrag mit dem fatalen Satz "Kinder kriegen die Leute immer"; die Rentner durften sich 1957 über verdoppelte Auszahlungen freuen. Wenige Monate später holte Adenauer die einzige absolute Mehrheit der bundesrepublikanischen Geschichte, wenige Jahre später hatte das Land ein Riesenproblem.

Weil Demografie die Geschwindigkeit einer Wanderdüne hat, streute die Politik dem Wahlvolk lieber Sand in die Augen. Norbert Blüm plakatierte 1986: "Denn eins ist sicher: Die Rente". Und weil sie vermeintlich so sicher war, wurden großzügige Frühverrentungen zugelassen und nach der Wiedervereinigung die Kassen auch noch für DDR-Bürger geöffnet. Kritik am System kam nur selten und von den üblich Verdächtigen: "Die Generation meiner Kinder hat dadurch, dass sie nur wenige Kinder hat, den Generationenvertrag längst aufgekündigt", schimpfte beispielsweise Kurt Biedenkopf 1996.

Eher im Verborgenen wurden dann nach und nach die Ansprüche für die Rentner von morgen gekürzt - von heute 51 Prozent des durchschnittlichen Nettolohns auf 43 Prozent im Jahre 2030. Zugleich steigt das Rentenalter auf 67 Jahre. "Wir Sozialdemokraten haben in der Vergangenheit die drohende Überalterung unserer Gesellschaft verschlafen. Jetzt sind wir aufgewacht. Unsere Antwort heißt: Agenda 2010", sagte der damalige SPD-Chef Franz Müntefering stolz. Er hatte recht, verschwieg aber die sozialen Folgen der Absenkung für die jüngeren Deutschen - wer sich in Zukunft allein auf die Rentenversicherung verlässt, ist im Alter verlassen. Durchschnittsverdiener könnten ein Fall für das Sozialamt werden. Während Gewerkschaften und Sozialverbände aufgeregt gegen die Rente mit 67 wetterten, erregte sich kaum einer über die dramatischen Kürzungen.

Warum das alles erst im Jahr 2012 auffällt, darf einem schleierhaft sein. Man hätte gewarnt sein können: "Wenn die Menschen länger leben, ist es durchaus zumutbar und vernünftig, die Dauer ihres Arbeitslebens (heute: 65 Jahre) ein wenig heraufzusetzen", sagte Schreiber. Vor 57 Jahren.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne "Hamburger KRITiken" jeden Montag Hamburg und die Welt