Der bekennende Opernfan Alexander Röder ist Hauptpastor im Michel und genießt diesen Job seit dem Amtsantritt im Jahr 2005 jeden Tag.

Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Folge 58: Alexander Röder. Er bekam den roten Faden von Sabine Schulze.

Einen frühen Fall von Amtsanmaßung hatte Michel-Pastor Alexander Röder, Jahrgang 1960, lange verdrängt. Dass er nämlich, gerade mal acht Jahre alt, die Puppe einer Nachbarstochter - ein Geburtstagsgeschenk - getauft hat und darüber eine Urkunde ausstellte, unterzeichnet mit "Pastor Röder". Die Mutter des Mädchens fand die Urkunde vor einigen Jahren wieder und erzählte ihm davon. War das der erste Hinweis auf den Weg, der ihn 2005 in das Amt des Hauptpastors von St. Michaelis geführt hat?

Alexander Röder lacht, ein helles, herzhaftes Lausbuben-Lachen, das wunderbar zu seinem weißen Wuschelkopf passt. "Ich bin normal religiös erzogen worden, bei uns wurde jeden Tag gebetet in der Familie. Und ich hatte eine sehr fromme Großmutter, die noch jedes Brot und jeden Kuchen mit dem Messer bekreuzigt hat, bevor angeschnitten wurde. Bei der habe ich auch übernachtet und vor dem Bett knien und beten müssen." Erstaunlich fand der Junge das und schön, "weil sie mit mir betete". Die Großmutter erzählte ihm und seinen Geschwistern auch biblische Geschichten.

So ist Religion für ihn etwas, über das offen geredet wird. Und das, sagt er, suchen viele Menschen auch heute in seiner Kirche: den Gegensatz zum Alltag. Ruhe. "Sie wollen sich in Gemeinschaft an Gott wenden, was sich sonst ja sehr ins Private und fast Intime zurückgezogen hat."

Als der Junge vier Jahre alt ist, stirbt der Vater, ein Kaufmann. "Das war immer verbunden mit der Vorstellung, dass er jetzt im Himmel ist, und der Himmel war oben, und so gab es dahin auch eine Richtung von Gespräch. Ob ich das schon Gebet nennen will, weiß ich nicht."

Sein religiöses Fundament hat viele Bausteine. Den Religionsunterricht an der Grundschule, mit einer sehr gläubigen Lehrerin, die der Klasse Bilder aus Jerusalem und dem Heiligen Land zeigt. Die Bilder im Kopf bekommen eine feste Verortung auf dem Globus. Und die Musik.

Er ist früh Opernfan. "Mitte der 70er-Jahre, am Karfreitag, war ich bei meinem ersten 'Parsifal' in der Staatsoper. Ich war zwölf oder 13, saß da während des ersten Aufzugs, und als der Chor am Schluss des ersten Aufzugs singt 'Nehmet vom Brot' - das hat mich sehr berührt, und das 'Bei welchen Heiden weiltest du, zu wissen nicht, dass heute der allerheiligste Karfreitag ist?' - und es war Karfreitag." Kunst und Leben, da verbinden sie sich. Das feine Gespür für die Wirkung des Theatralen wird ihn nie verlassen: "Für mich ist Liturgie - nicht als Mummenschanz, sondern als heiliges Spiel, als Spiel von Heilsgeschichte - ein ganz wichtiger spiritueller Moment."

Er kennt auch Phasen größerer Distanz, den Konfirmandenunterricht etwa. Als Kind träumt er davon, Archäologe zu werden. Oder Astronom, "aber das hat mit Physik zu tun, und Physik hat nichts mit mir zu tun." Später will er Jura studieren.

Sein Schlüsselerlebnis, das ihn ins Theologiestudium bringt, klingt unspektakulär. Kurz vor dem Abitur 1980 redet er mit einem Mitschüler am Gymnasium Oberalster, kein besonders enger Freund, über Studienpläne, und der sagt: "Ich studiere Theologie." Röder denkt: "Huch, sagt man das eigentlich so laut?" Die beiden reden darüber, übers Studium, über den Beruf als Pfarrer. "Das war die Initialzündung für mich."

Ein profaner Anstoß? "Sie können natürlich auch sagen: Dieser Mensch ist der von Gott geschickte Engel, der ja nicht mit Flügeln und Rauschgoldbart erscheint. Ich sehe diesen Mitschüler im Nachhinein als jemanden, der mich auf die Spur gesetzt hat." Er studiert Theologie.

Für sein Gemeindepraktikum sucht er eine Kirche, in der Liturgie, das Spiel von der Heilsgeschichte, eine große Rolle einnimmt. Er findet St. Johannis in Eppendorf. Erster Termin: "Da kommen Sie mal gleich nächsten Dienstag, da ist Seniorenfasching." Für den angehenden Theologen "der Albtraum pur, in der Beziehung bin ich sehr hamburgisch." Er geht hin und findet sich bald beim Ententanz mit einer 94 Jahre alten Dame. Fragt sich: Was machst du hier eigentlich? Willst du das wirklich? Und bleibt. Aus dem Praktikum wächst eine enge Freundschaft mit dem Pastorenehepaar Jordahn; was als Praktikum vier Wochen dauern sollte, dauert inklusive Vikariat schließlich acht Jahre - "für mich ein ganz großer Gewinn".

Nach seiner Ordination im Dezember 1990 in St. Nikolai wird er Pastor an St. Jacobi, zuständig für die Kunstschätze der Hamburger Hauptkirchen. Geht 2004 als Kirchenrat der Nordelbischen Kirche nach Kiel und kommt ein Jahr später zurück, als gewählter Hauptpastor an St. Michaelis.

Der Michel ist keine gewöhnliche Kirche. Er ist Gotteshaus, das immer zuerst. Mit Gottesdiensten jeden Tag. Er ist auch Wahrzeichen, Denkmal der lichten Architektur der Aufklärung, jährlich Ziel von 1,37 Millionen Touristen aus aller Welt, Raum für Staatsakte, Konzertsaal, Forum für Diskussionen und bald auch wieder Begräbnisstätte. Am Talar des Hauptpastors vom Michel zerren, bildlich gesprochen, viele Hände. Woher kommt die Kraft für sein Amt?

"Jeden Tag nehme mir morgens eine halbe Stunde Zeit, die gehört mir und dem lieben Gott." Eine Art Meditation? "Bibelstudium und Meditation und Gebet. Und auch Schweigen. Ich muss so viel reden, ich red ja auch gern - aber da ist Schweigen und Hören."

Fröhlich und lebenszugewandt wie er ist, kennt er sicher Don Camillo und dessen Zwiegespräche mit dem Gekreuzigten? Alexander Röder lacht auf. Ähnliche Momente kenne er wirklich. "Was da von Fernandel so wunderbar ausgedrückt wird, ist das Resumee am Abend: Gott, ich gebe dir jetzt diesen Tag wieder zurück in deine Hände. Vieles ist gelungen, vieles nicht. Wie können die nicht gelungenen Dinge bitte doch noch gewendet werden?"

Er findet Glücksmomente in der Kirche. "Die beiden Wochen rund um Weihnachten, rund 30 Gottesdienste im Michel. Da bin ich immer noch Kind, ein echtes Weihnachtskind am Michel, das ist für mich immer wunderbar. Wenn 'Stille Nacht' gesungen wird, ist für mich Weihnachten." Sein Lieblingsplatz: auf der Orgelempore, so weit oben, wie es geht. "Weil ich von da den ganzen Kirchenraum vor mir liegen sehe. Leider bin ich da nur selten."

Sein Büro dagegen wahrt Augenhöhe, er schaut auf die Englische Planke hinaus und, Richtung Hafen, auf den Haupteingang seiner Kirche, auf den endlosen Strom der Michel-Besucher, Blickkontakt jederzeit möglich. Die Vorhänge hat er als Erstes entfernen lassen.

Sein Pfarrhaus liegt hinter der Kirche, "mit dem großen Luxus eines Gartens mitten in der Großstadt". Mit Blumen und einem großen Kräutergarten, "weil ich gerne koche". Kein Klostergarten hinter hohen Mauern; eine Hecke muss reichen. Wird er neugierig beobachtet? "Die Menschen wollen manchmal schon in das Private reingucken." Wer ihn kennt, weiß längst, dass er dort allein lebt mit seiner kranken, 79 Jahre alten Mutter, die er seit sechs Jahren zu Hause pflegt.

Es gibt Gemeindemitglieder, die ihren Pastor fragen, warum er nicht verheiratet ist. "Denen sage ich, dass ich eigentlich sehr glücklich bin, so zu leben. Dass es das eben auch gibt - Menschen, die alleine leben. Das soll nicht heißen, dass ich daran für alle Zeit festhalte, aber im Moment finde ich das für mich wichtig und gut." Kein Zölibat aus Prinzip also? "Aus Prinzip schon mal gar nicht." Er lacht.

Das klassische Pfarrhausbild "mit Frau und vielen Kindern und die Gemeinde darf immer kommen" habe sich gewandelt. "Es lebt aber in den Köpfen vieler Menschen fort. Vielleicht ist das die Sehnsucht, da möge noch ein Stück heile Welt sein."

Statt eigener Familie hat er einen großen Freundeskreis. Einen Klub etwa seit 45 Jahren aus Kindertagen in Poppenbüttel, wo man sich trifft und einmal im Jahr gemeinsam in den Urlaub fährt - diesmal nach Neapel, Paestum, Sorrent. Sonst ist er im Urlaub meist in Frankreich zu finden. Daneben gibt es seine Schwester und den älteren Bruder, Freunde aus der Gemeindearbeit und rotarische Freunde, die er nicht oft, aber gern bekocht. Kochen ist für ihn Hobby, Leidenschaft, Experiment. Auch Meditation? "Meditativ ja, aber ich möchte dann auch gerne, dass es auf den Tisch kommt."

Über seine Größe haben wir schon gesprochen und darüber, dass man mit 1,94 Metern einfach den besseren Überblick hat. Nun muss noch geklärt werden, warum seine Haare so früh weiß wurden. "Das ist wohl genetisch bedingt, wenn ich der Mär meiner Familie folge. Bei mir zeigte sich das erste graue Haar mit 16, es wurden dann immer mehr. Aber ich hab sie wenigstens noch."

Wovon träumt einer, der an einem so herausgehobenen Platz steht? Alexander Röder macht, ungewöhnlich für ihn, eine lange Pause. "Dass dieser Traum andauert, dass ich an dieser Kirche arbeiten darf, mit diesen Menschen. Dass es bitte noch lange so sein dürfte." Aber Stillstand ist nicht seins: "Was passiert eigentlich, wenn ich mal hier aufhöre? Das dauert zwar noch, rutscht aber gaaanz langsam in den Blick. Wie will man wohnen, mit wem, wie will man das Alter gestalten?"

Fragen sind das, keine Ängste. Vielleicht macht ihn da ja sein Konfirmationsspruch gelassen - aus den Sprüchen Salomos 7,14: "Am guten Tag sei guter Dinge und an bösen bedenke: Diesen hat Gott geschaffen wie jenen, damit der Mensch nicht wissen soll, was künftig sei."

Alexander Röder reicht den roten Faden am kommenden Wochenende weiter an Erika Andreß, Präsidentin des Oberlandesgerichts Hamburg, "weil ich sie als sehr humorvolle Juristin kennengelernt habe, die zudem alle Mitarbeiter der Gerichte und der Justiz einmal im Jahr zu einer Andacht in den Michel einlädt".