Der ghanaische Seemann, dessen Koffer das Abendblatt ersteigert hatte, war gar nicht verschollen. Die Geschichte eines Missverständnisses.

Altstadt. Für den Reporter war es nichts anderes als pures Glück gewesen, am vergangenen Freitag einen roten Koffer zu ersteigern, aus dessen Inhalt sich das komplette Leben eines Seemanns rekonstruieren ließ.

Für Marc Onadja, den 54 Jahre alten Besitzer des Koffers, war es dagegen eine Katastrophe, als er am vergangenen Montagmorgen erfuhr, dass sein Koffer versteigert worden war. Darin befanden sich seine Erinnerungen an die Stadt Takoradi, etwa 150 Kilometer westlich von Ghanas Hauptstadt Accra an der Küste, wo er seine gesamte Familie zurückgelassen hat - die Fotos seiner Frau Gifty, seiner drei Kinder Francis, Messie und Jennifer sowie der Schwester und der Mutter. Auch alle relevanten Papiere, die ein Mensch in Deutschland für gewöhnlich benötigt, waren im Koffer: Meldeunterlagen, Arbeitsnachweise, Steuererklärungen, Renten- und Krankenkassenbescheide. Und ganz dringend benötigt, wenn er sich, wie zurzeit Marc Onadja, auf Jobsuche befindet.

+++ Ein Koffer, ein Leben für 100 Euro +++

Für Inka Peschke, die Geschäftsführerin der Seemannsmission am Krayenkamp, war es schlichtweg ein entsetzliches Missverständnis, ein "wirklich bedauerliches Versehen", dass ausgerechnet dieses Gepäckstück eines langjährigen Bewohners bei der "anonymen Kofferauktion für einen guten Zweck" unter den Hammer gekommen war. Schließlich zählt Marc Onadja zu den Dauerbewohnern in der Einrichtung unterm Michel. Man könnte sogar sagen, dass er hier nicht nur ordnungsgemäß gemeldet, sondern dass es praktisch auch seine zweite Heimat ist. Denn der Seemann, der im Jahre 1992 erstmals nach Deutschland kam, wohnt bereits seit 20 Jahren mit Unterbrechungen in der Einrichtung.

Hierher ist er, nach großer Fahrt, immer wieder zurückgekehrt. Und lebt hier auch, seitdem es mit der Seefahrt nicht mehr so läuft und er sich mit Geld vom Staat und dem einen oder anderen Gelegenheitsjob über Wasser hält. Außerdem überweise er 200 Euro pro Monat an seine Familie, sagt er. Egal, was da komme. Seine Töchter besuchten ja die Secondary School, was etwa der Highschool entspricht, sein Sohn Francis, 24, arbeitet als Automechaniker. Aber die Ausbildung der Kinder kostete und kostet nach wie vor Geld.

Marc Onadja ist ein sehr genügsamer Mann, was letztlich wohl auch die Erklärung dafür sein dürfte, dass sein roter Koffer im Depot der Seemannsmission nicht sein Namensschild, sondern dasjenige eines anderen Afrikaners aufwies, der Ende der 1990er-Jahre tatsächlich aus dem Dunstkreis der Seemannsmission verschwand und seinem Kumpel den Koffer überließ. Onadja packte seine Sachen rein und brachte ihn in den Keller. So sparte er 10 Euro Gebühr pro Jahr, "doch nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, dass die Gepäck versteigern würden".

Inka Peschke, der beim zeitversetzten Lesen der Koffergeschichte am vergangenen Sonntag "der Schweiß ausgebrochen" sei, kontert, "das habe ja auch wirklich niemand wissen können, ohne Namensschild". Doch jetzt hieße es "Ende gut, alles gut". Die Sache mit dem "vergessenen Entgelt fürs Kofferdepot" sei Makulatur, und die Seemannsmission werde Marc Onadja "selbstverständlich einen schönen neuen Koffer kaufen", verspricht sie. Klar, dass das Abendblatt darauf verzichtet hat, die 100 Euro für den aufgebrochenen Koffer zurückzufordern ...

Kurz vor Weihnachten könnte Marc Onadja dann vielleicht an Bord einer KLM-Maschine gehen und nach über zwei Jahren seine Familie in Ghana wiedersehen. Für den Flug müsse er jedoch rund 900 Euro zusammenkratzen, und ohne Job könne es wohl sehr knapp werden, wie er meint. Und dass er als Matrose je wieder eine Heuer bekomme, ist für einen Mann seines Alters eher unwahrscheinlich. Er habe viele große Hafenstädte dieser Welt gesehen, bloß in Indien sei er in seinen fast zwei Jahrzehnten auf See merkwürdigerweise noch nie gewesen, doch in der Seefahrt zählten leider nicht nur die Erfahrung, sondern das Alter und die Nationalität. "Mein letzter Job war Decksmann auf den Fähren der TT-Lines", erzählt Marc Onadja, und ein Lächeln überfliegt sein ansonsten ernstes Gesicht, als er sich an seine goldenen Jahre erinnert. "Da hatte ich knapp 2000 Euro netto im Monat, Kost und Logis waren frei." Aber jetzt würde ein Chinese seinen harten Job machen, der koste die Reederei knapp die Hälfte.

Marc Onadja sucht eine Beschäftigung; er sucht mithilfe der Bundesagentur sowie der Seemannsmission. Gerade hat man ihm eine Stelle in einem Lager angeboten. "Natürlich sehe ich mir das an", sagt er, "aber ein Job auf einem Schiff wäre lukrativer, da mein Leben an Bord praktisch nichts kostet."

Marc Onadja besitzt eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Brav hat er während seiner gesamten Zeit in Deutschland Sozialabgaben entrichtet und hat daher jetzt auch einen Anspruch auf Hilfe vom Staat. Ungefähr noch zehn Jahre will er in Deutschland durchhalten und noch so viel Geld nach Hause überweisen, wie es geht. Die notwendige Jagd nach dem Geld überwiegt sogar die Tatsache, dass Marc Onadja seine Familie nur sehr selten sieht. "Aber mit 65 gehe ich in Rente", sagt er, "und dann werde ich in Ghana vielleicht ein ziemlich gutes Leben führen." Seine Familie habe mittlerweile in zwei Taxis investiert, die zurzeit die Ausbildung der Kinder sicherten, und das Haus in Takoradi sei ebenfalls schon fertig.

Das wäre schon ein gutes Leben, wenn auch eins mit 30 Jahren Anlauf.