Blankenese. Die Angst liegt wie ein düsterer, lähmender Schatten auf ihrem Leben. Eine Furcht, die sie nachts hochschrecken lässt und sie dazu zwingt, sich immer wieder umzublicken, ob sie auch niemand verfolgt. Sicherheit - dieses Gefühl hat sich im Leben der betagten Dame an jenem Tag verflüchtigt, als sie Opfer eines brutalen Überfalls wurde. Als ein Mann sie mit einem Faustschlag ins Gesicht niederstreckte und sie beraubte. Anderthalb Jahre sind seit diesem Verbrechen ins Land gegangen, doch Agnes T. (Namen geändert) packt noch immer das blanke Entsetzen bei dem Gedanken, dem vermeintlichen Täter wieder zu begegnen. Um Himmels Willen - nur das nicht!

Einen seitenlangen Brief hat die 74-Jährige an das Amtsgericht geschrieben und um Verständnis gebeten. Sie möchte nicht noch einmal das alles durchstehen müssen, den Auftritt im Verhandlungssaal, die Schilderung des Überfalls, die Konfrontation mit dem Angeklagten Iulian F., alles Dinge, die sie unerbittlich aufwühlen und wohl noch weiter aus dem Gleichgewicht drängen würden. Schon einmal hatte sie im Prozess gegen den Mann, der für die Tat vom Februar vergangenen Jahres wegen Raubes und Körperverletzung angeklagt ist, ausgesagt und ihr Leid geschildert. Jetzt, in einem neuen Anlauf, der wegen Terminproblemen nötig wurde, bleibt der Rentnerin der schwere Gang erspart, ihre Zeugenaussage kann verlesen werden.

Die zierliche Hamburgerin ist auf Krücken angewiesen. Seit Langem schon, auch damals, als sie bei ihrer Bank Geld abhob, als sie einkaufen ging und sich dann nach Hause mühte. Und auf diesem Weg fünfmal demselben jungen Mann begegnete, der sie immer wieder ansprach und ihr zuletzt vor ihrer Haustür einen Stadtplan unter die Nase hielt und nach einer Straße fragte. "Plötzlich bekam ich einen Faustschlag ins Gesicht", schilderte Agnes T. den Überfall. Sie habe das Gleichgewicht verloren und ging zu Boden. Dann habe der Täter ihr die Handtasche mit 300 Euro entrissen und sei geflohen. Die 74-Jährige trug Verletzungen in Gesicht und am Knie davon. Doch weitaus gravierender sind die Spuren, die der Überfall auf ihrer Seele hinterließ. Drei Wochen lang habe sie sich nicht aus dem Haus getraut. "Ich wache nach wie vor nachts auf und blicke mich ständig um. Ich bin froh, dass mein Mann nicht mehr erlebt, was alles so passieren kann, dass man am helllichten Tag nicht mehr sicher ist."

Der Angeklagte Iulian F. schweigt zu den Vorwürfen. Er ist ein eher kleingewachsener drahtiger Mann, seit dem Frühjahr wegen eines Diebstahls im Gefängnis, der während des Verfahrens kaum einmal aufblickt. Dass dem 30-Jährigen der Prozess gemacht wird, ist unter anderem dem Hinweis eines Häftlings aus Billwerder zu verdanken, der ihn schwer belastet. Der Angeklagte, einige Zeit lang Zellengenosse des ebenfalls wegen mehrfachen Diebstahls zu Haftstrafen verurteilten Zeugen, habe ihm die Tat geschildert, sagt Lucian M. vor Gericht aus. Er habe von dem Schlag erzählt und dem Trick mit dem Stadtplan, mit dem er eine Rentnerin überrumpelt habe. "Ich sollte nichts weitersagen, aber es hat mich gestört, dass das Opfer eine alte Frau war, die niedergeschlagen wurde."

Nach einer entsprechenden Schilderung seinerzeit bei der Polizei waren Opfer Agnes T. neun Bilder von Verdächtigen vorgelegt worden, anhand derer sie sich nach dem Ausschlussprinzip zu Iulian F. vorgearbeitet hatte. Einer der anderen sehe zu sehr aus wie ein Boxer, einer habe zu schwülstige Lippen, drei von ihnen wirkten zu brutal, hatte sie etwa gesagt, bevor sie jeweils einen Strich durch die Gesichter gezogen hatte. Letztlich entschied sie sich dann für den Mann, der jetzt auf der Anklagebank sitzt. "Aufgrund der Hilflosigkeit in seinem Blick" und der traurigen Augen habe sie ihn identifiziert, sagte sie. Auch ein weiteres Indiz spricht gegen den Angeklagten. An der geraubten Handtasche wurden DNA-Spuren gesichert, für die der 30-Jährige laut einer Sachverständigen "als Verursacher in Betracht kommt". Wie hoch die Wahrscheinlichkeit dafür sei, könne jedoch nicht festgestellt werden.

All dies reiche für eine Verurteilung nicht aus, kritisiert der Verteidiger von Iulian F. in seinem Plädoyer. Der Anwalt moniert unter anderem die mangelnde Aussagekraft der Identifizierung durch das Ausschlussverfahren. Zudem seien auf dem Stadtplan, den der Täter unmittelbar am Ort des Verbrechens verloren hatte, keine Spuren seines Mandanten zu finden gewesen, betont der Verteidiger und plädiert auf Freispruch. Die Staatsanwältin beantragt dagegen für den vorbestraften Angeklagten eine Haftstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten. Der Täter sei "mit äußerster Brutalität" gegen ein Opfer vorgegangen, das bis heute noch seelische Schäden davontrage, sagt die Anklägerin.

Dies ist auch die Überzeugung des Schöffengerichts, das gegen den 30-Jährigen Iulian F. eine Strafe von zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis verhängt. Es gebe drei Säulen der Indizien, die in ihrer Gesamtheit den Angeklagten überführen, sagt der Richter, die Aussage des Zeugen, die DNA und die Tatsache, dass Agnes T. den Täter wiedererkannt habe. So eine alte gehbehinderte Frau zu überfallen, sei "ethisch auf einer Ebene, die nicht mehr nachzuvollziehen ist", redet der Richter dem Angeklagten ins Gewissen. Das sei "schändlich, das tut man nicht".