Europa ist Amerika eng verbunden. Aber der Präsidenten-Wahlkampf bietet Anlass, Unterschiede in Tradition und Kultur zu benennen

"Amerika hat uns niemals verziehen, dass Europa ein wenig früher entdeckt worden ist", hat Oscar Wilde, der exzentrische Spötter des viktorianischen England, einmal geäußert. Obwohl die USA ja gar nicht entdeckt zu werden brauchten, sie waren es längst - von den Millionen Ureinwohnern, die dort bestens lebten. Bis Kolumbus kam. Doch das ist eine andere Geschichte. Zurzeit überbieten sich republikanische Politiker jedenfalls in der scharfen Abgrenzung von Europa, das man für schwach und dekadent hält. (Apropos schwach: Den 46 olympischen Goldmedaillen der USA stehen übrigens mehr als 90 der EU gegenüber.) Man wolle auf keinen Fall so werden wie die Europäer, hat sich auch Präsidentschaftskandidat Mitt Romney im Wahlkampf gegraust. Zugegeben - derzeit bietet Europa wirtschaftlich nicht gerade ein optimales Bild. Aber die USA auch nicht.

Geologisch entfernen sich Europa und Amerika durch die Kontinentaldrift jährlich um etwa zwei Zentimeter voneinander, es scheint, als verlaufe die politische Drift weit zügiger. Der US-Wahlkampf mit seiner hemmungslosen Polarisierung beschleunigt dieses Phänomen noch. Fassungslos verfolgt man, wie dort gegen den waghalsigen Versuch Barack Obamas gewütet wird, eine bescheidene soziale Absicherung für die fast 50 Millionen Amerikaner, die ohne jede Krankenversicherung sind, zu etablieren. Wie inmitten einer nicht abreißenden Serie von Amokläufen für den Waffenbesitz möglichst aller Amerikaner geworben wird. Dabei sterben jedes Jahr 30 000 US-Bürger an Schussverletzungen; auf jeweils 100 Amerikaner kommen mehr als 90 Schusswaffen.

Man staunt, wie erbittert dafür gefochten wird, das ohnehin dürftige soziale Netz aufzuribbeln, um dafür die Oberschicht noch weiter von lästigen Steuern zu befreien und den Verteidigungsetat aufzustocken, der bereits unfassbare 600 Milliarden Dollar pro Jahr übersteigt. Wie nach der von skrupellosen Bankern ausgelösten Finanzkrise eine weitere Entfesselung der Wall Street empfohlen wird. Für US-Konservative ist das Etikett liberal - in Europa eine Auszeichnung - eine fast justiziable Beleidigung.

Amerika und Europa sind keineswegs deckungsgleich - und müssen auch nicht (mehr) so dargestellt werden. Während des Kalten Krieges war Westeuropa nur mit der Hilfe Amerikas in der Lage, sich erfolgreich gegen das weitere Vordringen des sowjetischen Imperiums zu stemmen. Die USA und Westeuropa - das war eine Schicksalsgemeinschaft im Angesicht einer dunklen Bedrohung. Vor allem in Westdeutschland, dessen Freiheit von Amerika garantiert wurde, galt offene Kritik an den USA oft als gefährlicher Defätismus. Heute aber sollte es erlaubt sein, ganz offen auf die Unterschiede in Tradition, Kultur und Mentalität hinzuweisen. Auch haben die Partner durchaus verschiedene politische Interessen.

Entscheidend ist jedoch zu betonen, dass die wichtigsten Werte dieselben sind: Demokratie, Pluralismus, Presse- und Redefreiheit, Gewaltenteilung und einiges mehr. Diese Werte wurden im feudalistischen Europa entwickelt, in den USA zum ersten Mal in ein funktionierendes politisches Regierungssystem gegossen und vom Alten Kontinent reimportiert. Die Entwicklung in den USA war allerdings eine andere und brachte eine spezielle Stellung von Freiheit, Waffenbesitz, staatlicher Einflussnahme und Selbstverantwortung hervor. Es sei darauf hingewiesen, dass es in den USA bei allen Mängeln des dortigen politischen Systems im letzten Vierteljahrtausend keinen einzigen Diktator gegeben hat. Von Europa kann man das leider nicht behaupten.

Angesichts eines expansiven und diktatorischen Chinas, einer sich nicht eben zum Besten entwickelnden russischen Autokratie sowie menschenverachtender Regime in der islamischen Welt kommt der Wertegemeinschaft zwischen Alter und Neuer Welt eine überlebenswichtige Stellung zu.

Wenn dies als solide Grundlage der Freundschaft akzeptiert ist, sind kritische Worte kein Problem. Die Sonntagsreden mancher transatlantischer Schwärmer hierzulande, die es nicht lassen können, Amerika kritiklos als leuchtendes Vorbild für Europa anzupreisen, sind eher peinlich als hilfreich. Seien wir lieber ehrlich, akzeptieren wir die Unterschiede, hören wir auf mit Schmähungen und auch mit Lobhudelei. Was uns verbindet, ist ohnehin viel bedeutender als das, was uns trennt.