Vor 100 Jahren wurde Hamburg zum Zentrum der Reformgartenkultur. Ein exklusiver Besuch in drei typischen Anlagen, die noch erhalten sind.

Das Haus ist eine Überraschung, in jeder Hinsicht. Sechs weiße Säulen stützen das Dach über dem Eingang und geben dem Portal etwas Ambitioniertes - aber die Fensterläden sind grün und haben kleine geschnitzte Herzchen. Auf den Ziergiebeln der beiden Gaubenfenster leuchten weiße Girlandenbänder mit Blumenkorb. Eine Villa? Eher ein eigenwilliges Landhaus auf dem Weg vom Klassizismus zur Moderne, dem seine Besitzerin mit vielen Kletterrosen ein freundliches, sogar fröhliches Aussehen gibt. 1905 entstand das Haus am Jenischpark, in einer Zeit, als Klein Flottbek gerade noch zu Pinneberg gehörte und auf der ungepflasterten Elbchaussee Pferdekutschen fuhren.

"Auch als mein Vater das Haus 1925 gekauft hat, war es hier noch einsam und dörflich", sagt Annemarei Ruhstrat. Sie selbst wurde 1926 in diesem Haus geboren. Ringsum grasten Kühe auf den Wiesen, und im Jenischpark hielten Schafe das Gras kurz. Das Haus erhielt zwei Seitenflügel und später einen Garagenanbau - aber der Garten blieb, wie er in den 1920er-Jahren schon angelegt war: ein Mittelgang zur Haustür, eingefasst von zwei Staudenbeeten mit Rosen und Sommerblumen, teilt die Rasenfläche; auf dem linken Teil ein großer Apfelbaum, auf dem rechten ein 40 Jahre alter Rosenbusch. Es ist ein geordneter Garten im Stil der Landhaus- und Reformgartenkultur.

Diese Bewegung fand zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Hamburg immer mehr Anhänger. Mehr als 100 Jahre lang war der Landschaftsgarten mit Staffagebauten in Mode gewesen - Schlängelwege führten zu kleinen Tempeln, Brücken, Pagoden und Säulen, selbst auf kleinsten Raum wurden noch Aussichtshügel und Teehäuser gepfercht. Aber nun hatten sich Historismus und Klassizismus überlebt. So wie die gesamte Kunstszene im Aufbruch war, suchten auch Architekten, Künstler und Gartengestalter nach modernen Formen. Alfred Lichtwark, Direktor der Hamburger Kunsthalle und großer Gartenliebhaber, hatte nichts im Sinn mit "Pagodenquatsch". Er forderte ein einfaches, klar strukturiertes Gartenkonzept.

Und das Vorbild fand er in einem Bauerngarten der hamburgischen Marsch: "Nein, wie gemütlich das aussieht, diese geraden Wege und buchsgefassten Beete, diese geschorenen Hecken und der große Würfel der Laube und diese klassische Verbindung von Blumen- und Gemüsegarten, wie menschlich", schrieb Lichtwark. Der Bauerngarten als "Rest ältester Kunst-Übung" eröffne neue Perspektiven für die Gartenbaukunst.

Nicht nur in Hamburg fiel die Anregung auf fruchtbaren Boden. Ganz Deutschland war nach der Jahrhundertwende im Reformfieber mit Reformkleidung, Reformküche, Reformpädagogik, Reformmöbeln, Reformbauten. Der Körper wurde vom Korsett befreit, Möbel sollten bequemer, Einrichtungen praktischer, das Leben gesünder werden. Und in Gärten sollte man nicht nur promenieren können. "Um die Jahrhundertwende wuchsen die Städte schnell, es gab soziale Probleme, die Leute lebten auf engstem Raum mit Luft- und Lichtmangel, arbeiteten in einer Sechs-Tage-Woche. Moderne Gärten und Parks sollten deshalb vor allem Räume für Bewegung, Spiel, Gesundheit, Sport bieten", sagt Heino Grunert, Gartendenkmalpfleger in der Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt.

Ergebnisse dieser Neuorientierung waren der Hamburger Stadtpark und der Bahrenfelder Volkspark mit Wiesen, Wald, Planschbecken und Sportfeldern. Auch private Gärten wurden anders gedacht. Die "neue Landhauskultur" vor dem Ersten Weltkrieg entdeckte wieder den norddeutschen Backstein; das pompöse Hochparterre der klassizistischen Villa wurde durch ebenerdige Terrassen ersetzt, die sofort ins Grüne führten; statt Schlängelwegen und Tempel-Hügeln dominierten im Garten klare Linien, ordnende Hecken und Pergolen, rechteckige Wasserbecken und Plätze für Tennis oder "Luftbäder" .

Alle namhaften Hamburger Architekten haben damals "neue Landhäuser" vor allem in den Elbvororten gebaut und sich deutschlandweit damit einen Namen gemacht, unter ihnen Walther Baedeker, Fernando Lorenzen, Erich Elingius, Werner Kallmorgen, Karl Schneider, aber auch auswärtige wie Hermann Muthesius und Henry van de Velde. Und ebenso erfolgreich schufen Hamburger Gartenbau-Unternehmen wie Jakob Ochs, Schnackenberg & Siebold, Koenig & Roggenbrod dazu Gartenanlagen, die auch nach heutigen Maßstäben modern und großzügig wirken. Hamburg wurde zu einem Zentrum der Reformgarten-Bewegung. Das demonstriert zurzeit die Ausstellung "Villen und Landhäuser", die im Jenisch-Haus im Rahmen des Architektursommers läuft. Eine dieser Anlagen entstand 1911 nicht weit vom Botanischen Garten Klein Flottbek. Das großzügige Landhaus, erbaut von den Architekten Freijtag und Elingius, ist "noch im Originalzustand, sogar das Dach", sagt der Besitzer Eberhard Strack, der 1930 als Fünfjähriger mit Eltern und Geschwistern hier einzog. Das Besondere: Den Garten entwarf Leberecht Migge, von 1904 bis 1913 künstlerischer Leiter der Gartenbaufirma Jakob Ochs. Die Skizze seines Gartenentwurfs wurde 1912 in dem damals wegweisenden Buch "Das Hamburgische Eigenwohnhaus" veröffentlicht, als Beispiel eines gelungenen Reformgartens.

Migge gestaltete einen Familiengarten mit viel Platz zum Spielen und einem Nutzgarten. Den Weg zum Eingang säumten pyramidenartig geschnittene Bäume. Vor der ebenerdigen Terrasse breitet sich im Entwurf die große Rasenfläche mit zwei Laubbäumen aus, die auf zwei Seiten von einem Lindenlaubengang umgeben ist. Der Nutzgarten an der Westseite des Hauses mit vier langen Gemüse- und Kräuterbeeten wirkt mit einer abschließenden Reihe von Säulenbäumen und Spalierobst fast toskanisch. Den Laubengang gibt es noch; die ursprüngliche Ulmenallee zum Eingang hin wurde irgendwann morsch, als Ersatz pflanzten Eberhard Stracks Eltern vier Mammutbäume. Eine von Buchs geränderte Blumenrabatte trennt heute den früheren Nutzgarten vom Wohngarten. Eberhard Strack und seine Frau Hannelore bauen kein Gemüse mehr an. Sie haben eine weiße Bank in der Ecke aufgestellt, von der aus sie ihren Garten überblicken können, stolze 1850 Quadratmeter. Das Rasenmähen besorgt heute ihr Enkel.

Die Grundform ist so geblieben, wie der Gestalter es gewollt hatte. Leberecht Migge gehörte zu Deutschlands ganz großen Gartenarchitekten. Schon 1912 trat er dem Deutschen Werkbund bei, in dem Künstler, Kunstgewerbler und Architekten eine neue Ästhetik der Sachlichkeit und menschennahen Funktion suchten. In den 1920er-Jahren lebte Migge in der Künstlerkolonie Worpswede und gründete dort das Sonnenhof-Projekt, eine Art Selbstversorger-Kommune. Er plante unter anderem 1931 den Garten für Philipp Reemtsma an der heutigen Parkstraße, den Wacholderpark in Fuhlsbüttel, die Hufeisensiedlung in Berlin-Britz. Einen Migge-Garten zu besitzen macht Eberhard Strack stolz.

Ähnlich empfindet auch Dr. Rolf William Wilkens in der Eichendorffstraße. 1935 ließ sein Vater William Henry Wilkens dort von dem Architekten Walther Baedeker ein Landhaus im Stil der Reformkultur bauen. "Baedeker war inspiriert von friesischen Bauernhäusern", sagt Wilkens. In Kampen auf Sylt hatte der Architekt schon das "Watthüs", "Haus Kliffende" und 1936 das "Waterküken" gebaut, jenes kleine Reetdachhäuschen am Watt, das kürzlich als "teuerste Immobilie der Welt" in den Schlagzeilen war. Für Wilkens modernisierte Baedeker die friesische Form mit großen Fenstern und Terrassentüren. Die Gestaltung des 3600 Quadratmeter großen Geländes übernahm 1938 der Gartenarchitekt Gustav Lüttge, der 1953 auch Teile des Alsterparks geschaffen hat. Auch hier der Reformgarten-Stil: ein Wohngarten vor der Südterrasse mit einer großen baumbestandenen Rasenfläche; und ein Nutzgarten im Westteil des Grundstücks mit Obstbäumen und -sträuchern, davor ein großes Schwimmbecken. Auf einer erhöhten Stufe schließt sich wie eine Blumenkulisse ein großes Staudenbeet an. Ein Gartenhaus im Stil des Haupthauses an der Südterrasse bietet einen geschützten Sitzplatz und einen Winterraum für Brigitte Wilkens' schöne große Kamelien. Der Garten wirkt wie ein fließender Raum, dessen parkartige Wirkung von einzelnen hohen Douglasien, Scheinzypressen und einer prächtigen Robinie betont wird. Rhododendren, Azaleen, alte Eichen und Hainbuchen bilden den immergrünen Rand.

Natürlich hinterließen die Jahrzehnte Spuren in den Gärten. In der Nachkriegszeit pflanzten die Bewohner auf den Rasenflächen Kartoffeln, Kohl und Möhren. Wo Rolf Wilkens heute an einem kleinen Treibhaus Weinstöcke zieht, war damals ein Hühnerstall. Dennoch fand der britische Stadtkommandant von Hamburg Wilkens' Haus 1945 so attraktiv, dass er darin seinen privaten Wohnsitz nahm - die Familie hat es erst 1956 wiederbekommen, sagt Wilkens. Dass die Besitzer aller drei Gärten die alten Anlagen pflegen und wiederhergestellt haben, wundert den Architektur- und Alltagsforscher Hans Bunge nicht. "In diesen Gärten haben sich mehr als drei Generationen jahrzehntelang entspannt und entfaltet", sagt er. Reformgärten sind schön, funktional und zweckmäßig, nicht unbedingt pflegeleicht. Sie sollten in erster Linie der Raum sein, in dem große Familien sehr verschiedenen Interessen nachgehen können. Dieses Konzept ist aufgegangen.