In der Fastenzeit dürfen Somaira Khokhar und ihre Familie vor Sonnenuntergang nichts essen. Das Leben bekommt einen anderen Rhythmus.

Barmbek-Nord. Es ist schon jetzt abzusehen, dass Melissa diese Zeit einmal schwerfallen wird. Die Eineinhalbjährige greift nach Erdbeeren, Broten, Joghurt. Sie futtert Granatäpfelkerne und droht, einen Fruchtzwerg im Teppich zu verteilen. Mutter Somaira Khokhar geht gerade noch dazwischen, lacht und seufzt zugleich. "Sie saß schon ständig vor dem Kühlschrank, bevor sie ihn öffnen konnte", sagt sie.

Für Melissa sind es paradiesische Tage. Ihre Mutter hat ein Curry gekocht, dazu Reis, eine Art Bruschetta gibt es und gefüllten Blätterteig, Salat mit Mango, Fleischbällchen und Minzjoghurt, eine Erdbeersahnecreme, mit Pfeffer gewürzten Obstsalat und süßen Safranreis mit Kokos. Somaira legt noch ein paar Datteln bereit. Fastenzeit.

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Es ist die dritte Woche des Ramadan, sieben Uhr abends, und Somaira Khokhar steht mit ihren Freundinnen Shaista und Farhat Ahmad in der Küche und rückt Schüsseln mit Essen zurecht. Vorbereitungen für später. Somaira ist 29, strahlendes Lächeln, eine selbstbewusste Frau, die elegantes Kopftuch trägt. An diesem Tag muss sie nicht fasten. Wer seine Tage hat oder krank ist, darf seine Gesundheit nicht gefährden. Auch Kindern und Reisenden ist das Fasten verboten.

Für Willensschwache ist es ein hartes Jahr. Jedes gregorianische Jahr beginnt der Ramadan, der neunte Monat islamischer Rechnung, wieder zehn Tage früher, zurzeit fällt er in den Sommer, die Tage sind lang und die Nächte kurz. Gegessen wird nur vor Aufgang der Sonne und nachdem sie untergegangen ist. Um vier Uhr früh müssen Somaira Khokhar und ihr Mann Sami ihre erste und für viele Stunden letzte Mahlzeit zu sich nehmen, die nächste gibt es erst abends. 21:06 Uhr - das ist die vorgegebene Minute, in der an diesem Tag das Fasten gebrochen wird.

Melissas Bruder Jazeb sitzt auf dem Sofa, vertieft in Bilder der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Er ist ein großer, aber untreuer Fan und hat fast täglich einen neuen Lieblingsspieler. Für ihn ist Ramadan ein bisschen wie für andere Kinder der Advent, denn am Ende steht das Zuckerfest - viel Familie, gutes Essen, und vor allem ein großer Berg Geschenke. An einer Mondsichel aus Papier entlang hat Somaira, einem Adventskalender ähnlich, kleine Säckchen mit Schokolade aufgehängt. Damit der Ramadan auch für die Kleinen ein besonderer Monat wird.

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Gegen acht trudeln die Männer ein, Somairas Mann Sami und Shaistas Mann Fazal Ahmad. Alle, die an diesem Abend da sind, sind nur deswegen in Hamburg, weil sie einer muslimischen Minderheit angehören: der Ahmadiyya Muslim Jamaat, einer Reformgemeinschaft, die Gewalt ablehnt. In ihrer Heimat Pakistan wird sie verfolgt. Unter Muslimen gelten die Ahmadiyya als Ungläubige, auf Flugblättern wird ihr Tod gefordert . Vor zwei Jahren kamen im pakistanischen Lahore 80 Mitglieder der Ahmadiyya ums Leben, als Extremisten Bomben in zwei Moscheen warfen und mit Maschinengewehren auf die Betenden schossen. Fazal Ahmad, Shaista, Farhat, Sami, Somaira: sie alle sind Kinder von Flüchtlingen, Muslime, deren Leben in einem islamischen Land bedroht wäre. "In Pakistan", sagt Fazal Ahmad, "wäre uns Ramadan verboten."

Mehr als 2300 Mitglieder der Ahmadiyya gibt es in Hamburg, sie haben die erste Moschee der Stadt gebaut. Sie halten an fast eineinhalbtausend Jahre alten Traditionen fest und sind doch fest verwurzelt. "Wir sind sehr dankbar, dass wir unseren Glauben hier frei ausleben können", sagt Ahmad. Zum Iftar-Empfang anlässlich des Ramadan haben sie andere Muslime eingeladen, außerdem Vertreter der jüdischen Gemeinschaft, der Christen, der Politik und des Verfassungsschutzes. Sie leiden darunter, dass der Islam häufig nur in Form des Extremismus wahrgenommen wird. Ihr Glauben ist intensiv, aber nicht missionarisch. Ahmad hält den Koran in der Hand, wenn er ihn am Tag nur eine halbe Stunde liest, ist das wenig. Er liest darin, dass ein Mensch nach seinen Taten beurteilt werden soll und nicht nach seinem Glauben. Aber er weiß, dass manche anderen Muslime die Zeilen des Korans anders interpretieren. Er hat im Fernsehen gesehen, wie der islamistische Prediger Pierre Vogel mit sanfter Stimme Johannes B. Kerner die Hölle voraussagte. Ahmad ist ein ruhiger Mann, aber solche Dinge ärgern ihn. "Wir haben viel mehr Mitglieder als die Salafisten", sagt er. "Aber von uns weiß keiner etwas. Weil wir keinen Ärger machen." Vor zwei Jahren haben sie eine Plakataktion gemacht, "Muslime für den Frieden". Darüber hätten die Medien kaum berichtet.

Der Glauben der Ahmadiyya ist ein sehr ursprünglicher, "frei von den Verfremdungen späterer Jahre", wie Sami Khokhar sagt. Umso wichtiger nehmen sie die Regeln Mohammeds. Umso klarer, dass beim Ramadan keiner schummelt. Vier Wochen lang kein Essen, kein Trinken, kein Geschlechtsverkehr, stattdessen noch mehr Gebete, noch mehr Koran. Und sehr viel Zeit mit Familie und Freunden: Weil den ganzen Tag vorgekocht wird, gerät jeder Abend zu einem kleinen Fest. Nur Sami Khokhar, der Diät machen will, bleibt in diesen Tagen oft mit den Kindern zu Hause und schickt seine Frau alleine los. Ausgerechnet in diesen Wochen nehmen viele zu. Ramadan heißt aber auch: keine Lügen, keine böse Rede. "Es ist ein Update, eine Auffrischung des Glaubens", sagt Sami Khokhar. Neben seinem IT-Job moderiert er die Sendung "Aspekte des Islam" auf Tide TV, auch Somaira gestaltet Sendungen zu Frauenthemen mit, zum Thema Fasten hatten sie die Woche auch einen Juden und einen Hamburger Pastor zu Gast. "Letztlich ist es in allen Religionen ähnlich, eine Art innere Reinigung."

Langsam geht es auf neun Uhr zu. Die Kinder schlafen, die Männer haben ihre Gebete nachgeholt. Somaira Khokhar beginnt, den Tisch zu decken, ihr Mann stellt eisgekühlte Cola und Fanta bereit. Sie sprechen weniger während des Ramadans, und leiser, weil der Mund so schnell trocken wird.

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Das Fastenbrechen findet in allen Ahmadiyya-Familien Hamburgs gleichzeitig statt. Punkt 21.06 Uhr nehmen sie eine Dattel oder etwas Wasser zu sich, eine bescheidene, fast beiläufige Geste. Viele andere Muslime orientieren sich bei den Uhrzeiten nach dem Sonnenstand in ihren Herkunftsländern. "Wir Ahmadiyya richten uns nach der Sonne unserer Stadt", sagt Somaira Khokhar. "Wir leben doch hier."

Gegen 9 Uhr beginnt langsam der Countdown. Sie stellen den Fernseher an, zappen zwischen Fernsehprogramm und Videotext, Olympia und Uhrzeit, der deutsche Diskuswerfer hat schließlich Chancen auf Gold. Es ist Punkt 21.06 Uhr, als der spätere Olympiasieger Robert Harting seinen zweiten Versuch im Netz versemmelt. Sami Kho-khar steht auf und verteilt Datteln.

Der Bildschirm wird schwarz, es folgt das vierte Gebet des Tages, dann tischen sie auf. Ihre Portionen bleiben klein. "Oft bin ich nach der ersten Dattel schon satt", sagt Somaira Khokhar. Nach 17 Stunden ist der Hunger nicht mehr groß. Nur ganz selten, sagt ihr Mann, bekomme er nachts plötzlich Gelüste. Dann sei es auch schon passiert, dass er sich an Melissas Süßigkeiten vergriffen hat.

Mit 15, 16 Jahren beteiligen sich Jugendliche meist erstmals am Ramadan. Und wenn Melissa dann nicht aufs geliebte Essen verzichten will? Sami Khokhar zuckt die Schultern. "Dann eben nicht", sagt er. Es gibt da diesen einen Satz aus dem Koran, der für die Ahmadiyya besonders wichtig ist: "Es soll kein Zwang sein im Glauben."