98 Prozent der Einträge im Duden änderten sich durch die Umstellung nicht. Aber die Regeln sind seitdem klarer

Es gibt Themen, die hält man für erledigt und tief im Archiv verborgen, aber dann kommt jemand und zerrt sie wieder an die Öffentlichkeit: Barschels Tod in der Badewanne zum Beispiel, die jährlich neue Verschwörungstheorie über die Schüsse auf Kennedy - und nun der angebliche "Riesenfehler" mit der Rechtschreibreform, obwohl die alte, die von Konrad Duden persönlich als Vermächtnis hinterlassene Orthografie aus dem Jahre 1901 doch so klar, verständlich und von jedermann beherrschbar war, "klassisch" eben, was immer das auch bedeuten soll.

Das ist Unfug. Nach 15 Jahren, die ich mich beruflich mit dieser Thematik beschäftigen musste, gestatte man mir ausnahmsweise dieses deutliche Wort, um eventuell aufkeimenden Gerüchten von vornherein entgegenzutreten. Napoleon wird nachträglich die Schlacht von Waterloo nicht mehr gewinnen und Claudia Ludwig nicht die Debatte um die Rechtschreibreform, wenn sie es gestern an dieser Stelle auch versucht hat.

Die Rechtschreibreform war keine Gutschreibreform, das wäre wegen der Komplexität unserer Muttersprache auch nicht möglich gewesen, aber sie war erst recht keine Schlechtschreibreform. Nennen wir sie eine Besserschreibreform. Die Reformer versuchten, in den Wildwuchs des alten Regelwerks mit seinen unübersichtlichen Ausnahmen und auswuchernden Vorschriften etwas Ordnung zu bringen.

98 Prozent der Einträge im Duden änderten sich dabei 1998 übrigens nicht, und rund 90 Prozent der Änderungen bezogen sich auf die ss/ß-Regel, die sogar von den meisten Kritikern der Reform verteidigt wurde: nach kurzem Vokal ss (Fluss), nach langem Vokal (Fuß) oder nach Diphthong (heiß) ß. Es ging nicht darum, eine dritte Möglichkeit im Auslaut zu schaffen, sondern darum, die Rektion zu vereinfachen: Musste Klein Fritzchen früher deklinieren: der Fluß, des Flusses, dem Fluß/Flusse, den Fluß, die Flüsse", so heißt es heute: einmal ss, immer ss. Wer das "bei bestem Willen und größter Anstrengung" nicht kapiert, der braucht in der Tat keine weitere Erleichterung.

Übrigens wurde die Rechtschreibreform nicht 2006, sondern bereits 1998/1999 eingeführt. 2006 wurde sie lediglich verschlimmbessert. Nachdem die Kultusministerkonferenz im Juni 2004 nach fünfjähriger Testphase die neue Rechtschreibung mit einigen leichten Korrekturen ("leidtun") abgesegnet hatte und die Deutsche Presse-Agentur sie so übernehmen wollte, erreichten einige Kritiker an einflussreicher Stelle, dass die Ministerpräsidenten erst einmal den Rat für deutsche Rechtschreibung einsetzten, den "Unrat" zu nennen nach seinen Ergebnissen erlaubt sein muss.

Dieser Rat legte den Kultusministern seine Ergebnisse ausgerechnet am Rosenmontag des Jahres 2006 vor, und der Sprecher eines Lehrerverbandes nannte diese Ergebnisse "den längsten Narrenzug der Republik". Da aber die bisherigen Schreibweisen nicht ersetzt wurden, sondern daneben bestehen blieben, kam es zu den beklagten fakultativen Schreibweisen im Duden. Der Duden unterlegt bei "Gewinn bringend/gewinnbringend" übrigens "gewinnbringend" mit gelber Markierung, sodass wir uns an diese Empfehlung halten und den Lesern ein weitgehend einheitliches Schriftbild bieten können.

Wenn aber beide Möglichkeiten amtlich richtig sind, ist nicht einzusehen, warum Klein Fritzchen Wörterbücher wälzen und schwere Lexika in die Schule schleppen sollte, um im Diktat keinen Punktabzug zu bekommen: Ob er nun so oder so schreibt, es wäre doch so oder so kein Fehler!

Die Reformer versuchten es mit klaren neuen Regeln, die hier heute nicht im Detail vorgestellt werden können. Ich habe früher einmal 40 alte Schreibweisen wie "toller Tolpatsch, numerieren, plazieren, Tip auf dem Tippschein, Stuck des Stukkateurs, einbleuen, in bezug, mit Bezug" herumgereicht, wobei nur "richtig" oder "falsch" angekreuzt werden sollte.

Hätte man gewürfelt, hätte man irgendwann 20 Treffer erreichen müssen. Die Beste war eine pensionierte Kollegin mit acht Richtigen. Wer behauptet, die alte Rechtschreibung habe keiner Reform bedurft, bei dem ist es ohnehin egal, ob er die alte oder die neue Rechtschreibung nicht beherrscht.