Während sich Kunden über lange Postlaufzeiten wundern, sagt ein Zusteller über Arbeitsbedingungen: “Wir müssen immer mehr Werbung verteilen.“

Hamburg. Die Klagen der Kunden nehmen zu. Sie beschweren sich über lange Schlangen in Postfilialen, kritisieren, dass Briefe seltener zugestellt werden. Die Post weist diese Vorwürfe zurück. Aber wie sieht es hinter den Kulissen aus? Das Abendblatt sprach mit einem Hamburger Briefträger.

Seit einem halben Jahr bedient Thorsten Krämer* einen neuen Bezirk in der Hansestadt. Der 48 Jahre alte Postbote arbeitet in Vollzeit, hat laut Tarifvertrag eine 38,5-Stunden-Woche. Tatsächlich arbeite er häufig sogar länger als die maximal erlaubten zehn Stunden. "Ich muss jetzt häufig etwa 120 Haushalte pro Schicht mehr anfahren, aber wie soll das gehen, wenn wir doch immer öfter Werbung an jeden Haushalt verteilen müssen? Dem Konzern bringt diese Werbung natürlich Geld, aber wir rennen uns die Hacken krumm, und die Werbung fließt nicht in das Bemessungssystem (IBIS) mit ein", sagt Krämer.

+++Jede Sekunde ist verplant+++

Er wirft seinem Arbeitgeber vor, dass das "IT-gestützte Bemessungs- und Informationssystem" nicht mit realistischen Daten gefüttert werde. "Hinsichtlich der Zeitstandards ist es nämlich sehr schwierig, allgemeingültige Zeiten zu nennen. Wenn ich ein Einschreiben auf dem Land zustellen würde, gelten dafür beispielsweise völlig andere Zeiten und Wege als in der Großstadt. Sonnabends habe ich immer 'Einkauf aktuell' dabei, dazu kommen dann noch Postwurf-Spezialsendungen."

So müssen viele der 80.000 deutschen Postboten an einem Sonnabend jeweils bis zu 700 Kilogramm Werbematerial zustellen. Wenn das Postsystem hakt, dann weil immer weniger voll bezahlte Briefe und dafür immer mehr Werbebriefe versendet werden. Dafür zahlen die Absender oft nur das halbe Porto im Vergleich zum Normalbrief. Und der 55-Cent-Standardbrief wird immer öfter durch E-Mails ersetzt. Die billigen Werbesendungen machen bereits mehr als 30 Prozent des Volumens aus. Das heißt: Die Arbeit bleibt die gleiche, aber der Gewinn fällt geringer aus. Auf Dauer wird sich die Post ihren teuren, personalintensiven Zustelldienst (80 Prozent der Kosten im Briefverkehr entfallen aufs Personal) sicherlich nicht leisten können. "Wir Briefträger sollen einfach mehr Post austragen. Im ersten Schritt wurde uns zwar das Sortieren der Touren abgenommen und anderen Mitarbeitern übertragen. Und jetzt sorgt IBIS dafür, dass wir immer so viele Briefe bekommen, wie wir es nach einer täglichen Berechnung schaffen könnten. Da fällt mein Bezirk an einigen Tagen mal größer und an anderen wieder kleiner, meistens aber größer aus."

Mit seiner Kritik steht Krämer nicht alleine da. Auch bei der Kommunikationsgewerkschaft DPV, der Fachgewerkschaft für die Deutsche Post AG, herrscht inzwischen der Eindruck, dass IBIS mit "undurchsichtigen Bemessungswerten gefüttert werden", sagt Maik Brandenburger, Sprecher der DPV, "getreu dem Motto: Sind die bereitgestellten Mittel verbraucht, müssen die Zustellbezirke einfach größer geschnitten werden."

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Die Folgen der rigiden Sparpolitik seien derzeit schon spürbar, so der Gewerkschafter: "Der Krankenstand der Stammbelegschaft hat sich in den vergangenen drei Jahren von fünf auf sieben Prozent erhöht." Darüber hinaus verliere der Beruf des Zustellers zunehmend an Attraktivität. "Nicht nur in Schleswig-Holstein, sondern auch in Hamburg hat das Unternehmen derzeit wohl Schwierigkeiten, fähige, gut ausgebildete Mitarbeiter zu finden." Dies, so Brandenburger, führe dazu, dass die Postbranche langfristig in den Niedriglohnsektor abzurutschen drohe. "Und darunter leidet die Servicequalität, denn guter Service kann nur von gut ausgebildeten, leistungsgerecht bezahlten und motivierten Mitarbeitern geliefert werden."

Markus Wohsmann, der Postsprecher für den Bereich Nord, lässt diese Kritik am IBIS-System nicht gelten. Und auch die Berichte und Klagen von Kunden über zunehmend verspätete Briefsendungen kann er nicht bestätigen. "Wir richten uns nach den REFA-Standards (Verband für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung), die von den Arbeitgebern und dem Deutschen Gewerkschaftsbund anerkannt sind. Und wir überprüfen das System kontinuierlich auf seine Praxistauglichkeit - wir sehen permanent, wer auf welcher Tour welche Zeit benötigt." Überhaupt stehe man in puncto Qualität im internationalen Vergleich sehr gut da. "So wurden in den letzten Jahren die Öffnungszeiten der Filialen massiv ausgeweitet, und auch die vom Bundestag beschlossene 'Postuniversaldienstleitungsverordnung" wird übererfüllt: In einem bebauten Gebiet muss niemand mehr als 1000 Meter bis zum nächsten Briefkasten laufen."

* Name geändert