Vor zehn Jahren trieb ein groteskes Thema Hamburg um - vom Wachsen und Verschwinden eines Aufregers

Hamburg ist stolz auf seine Hamburgensien. Das Schwanenwesen zur Rettung des Wasserwilds gehört zu den Eigenarten der Stadt, ebenso die etwas altbackenen Herrschaften Hummel, Hummel und Zitronenjette oder Frischgebackenes wie das Franzbrötchen. Die bizarrste Hamburgensie aber ist der Poller.

Er ist ein stahlgewordenes Erziehungsinstrument - eigentlich wollten Bürokraten und rot-grüne Politiker einst damit die Hamburger Autofahrer disziplinieren und von Gehwegen auf die raren Parkplätze zwingen; die Poller haben zwar nur eine Funktion, aber variieren in Form, Festigkeit und Farbe. Und sie tragen bizarre Namen: Da gibt es Parkdoppelarmbügel, "Frankfurter Hüte", Rot-Weiß-Poller, dreieckige Beton-"Schweine", Stahlringe, Absperrgitter, Pfosten und Bügel, Findlinge, Gatter, Zinnsoldaten, Pflanzkübel, Betonbaken, Granitwürfel, Holzpfähle, Steinquader und sogenannte Ufo-Poller - vermutlich weil sie Radfahrer im Falle einer Kollision rasch in ungesteuerte Flugobjekte verwandeln. Sie stehen für eine Stadt, die lieber reglementiert und erzieht, als den Menschen zuzutrauen, sich an Verkehrsregeln zu halten und Verstöße gegebenenfalls zu ahnden. Mehr noch als für Autofahrer sind sie für Radler und Fußgänger Ärger- und Hindernis zugleich. Denn die Absperrelemente stehen vorzugsweise mitten auf ihren Wegen herum und gefährden ortsunkundige oder tagträumerische Fahrradfahrer.

Doch das ist nur ein Teil der Hamburgensie - denn noch absurder als der Poller an sich war die Pollerhysterie, die vor zehn Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Sie sind eine Groteske, wie eine Wutwelle eine Nichtigkeit zum Politikum hochjazzt. Wie Populisten das Thema entern. Und ein Beispiel, wie ein aufgeblasenes "Topthema" schließlich in sich zusammenfällt.

Zu Beginn des Jahrtausends standen Poller in Hamburg tatsächlich auf einer Stufe mit Elbvertiefung, Stadtbahn oder innerer Sicherheit. Sie polarisierten die Menschen, füllten ganze Zeitungsseiten, stürzten die halbe Stadt in eine bizarre Pollerhysterie, beschäftigten den Senat und entschieden Wahlen mit. Es begann im Jahr 2000 - damals war jede fünfte Pollergeschichte in deutschen Medien made in Hamburg.

Es begann auf dem Boulevard mit Skandalgeschichten gegen den "Poller-Irrsinn", den "Poller-Skandal" oder, wenn schon denn schon, dem "Poller-Terror". 2001, der Wahlkampf nahte, eskalierte die Pollerschlacht - jeder dritte thematisierte Poller stand in Hamburg. Ungeheuerliches tat sich in der Stadt: "Bürger wehrt euch", schallte es von den Barrikaden. "Hamburgs Poller brachen Rentnerin ein Bein" beziehungsweise "Däne steckte zwischen Killer-Pollern fest", lauteten die Schlagzeilen oder "Zugepollert! Damit die SPD schön feiern kann?" Längst war der Poller politisch. Der damalige Oppositionsführer Ole von Beust (CDU) forderte die "radikale Entpollerung der Stadt auf ein Minimum".

Das war nicht allen radikal genug. Als die Schill-Partei in die Regierung einzog, wurde eine Pollerhotline geschaltet - innerhalb von drei Tagen riefen mehr als 800 Bürger an. Öffentlichkeitswirksam ließ sich der damalige Bausenator von der Schill-Partei fotografieren, wie er persönlich Hamburg entpollert. Eine Million Euro ließ sich der Senat das Entfernen der Ungetüme kosten, der damalige Innensenator Ronald Schill erklärte gar die Entpollerung zur Chefsache - mit einer fünfseitigen "Fachanweisung der Behörde für Inneres zur Aufstellung von Absperrelementen". Hamlet lässt grüßen: "Ist dies schon Tollheit, hat es doch Methode." Im Jahr 2002 waren 37 Prozent aller Pollergeschichten Hamburgensien. Sie tragen so bizarre wie groteske Überschriften wie "Schill köpft 10 000 Poller" oder "Ab Montag wird Hamburg weiter entpollert". Pressestellen verbreiteten immer aufgedrehtere Erfolgsmeldungen.

Danach gerieten die Beton-Blumenringe und Granitwürfel bald in Vergessenheit. Heute spielen Poller weder in Politik noch in den Medien eine Rolle - sie haben Schill-Partei, Hotlines und Fachanweisungen überlebt und stehen still und stumm weiter als Hamburgensien herum. 2011 schafften sie es noch dreimal in eine Zeitungsüberschrift: "Politiker fordern Schutz-Poller für liebestolle Kröten", "Poller-Wut in Altona" und "Poller plötzlich wieder da". Letzteres wollen wir nicht hoffen.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne "Hamburger KRITiken" jeden Montag Hamburg und die Welt