Mit Beginn der 1970er-Jahre ging die Zahl der Einwohner in Hamburg zurück. Dann stieg sie wieder stark an. Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Hamburg. Es war das Jahr, als amerikanische Astronauten das erste Mal auf dem Mond landeten. In Deutschland wurde mit Willy Brandt erstmals ein Sozialdemokrat Bundeskanzler - und in Hamburg verfestigte sich 1969 eine Entwicklung, die zunächst wenige so richtig ernst nahmen.

Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hatte die Bevölkerung stetig zugenommen. 1961 verzeichnete Hamburg erstmals mehr als 1,8 Millionen Einwohner . 1964 erreichte die Stadt die bisherige Rekordzahl von 1,857 Millionen. Doch dann, zunächst langsam, sank die Zahl der Einwohner wieder. 1969 markierte das Ende der bevölkerungsstarken Periode. 1970 rutschte die Zahl der Hamburgerinnen und Hamburger wieder unter die Marke von 1,8 Millionen. Ein Trend, der sich in den Folgejahren fortsetzen sollte.

"Wir hatten dennoch gewarnt und wollten den Wohnungsbau forcieren", erinnert sich Klaus Müller-Ibold. Der hochgewachsene, schlanke 83 Jahre alte Stadtplaner war in jenen Jahren parteiloser Oberbaudirektor in Hamburg. Doch die Entwicklung ließ sich nicht aufhalten. 1986 schließlich war in Hamburg ein Tiefstand mit einer Einwohnerzahl von 1,54 Millionen erreicht, bevor die Zahlen wieder stiegen. Erst vor wenigen Wochen sollten erstmals nach 43 Jahren wieder mehr als 1,8 Millionen Menschen in der Hansestadt leben.

+++ Ansturm auf Hamburg - Stadt braucht noch mehr Wohnungen +++

+++ Hamburg hat wieder mehr als 1,8 Millionen Einwohner +++

Allerdings ist das Hamburg von 1969 mit dem heutigen kaum vergleichbar. An einigen Kennzahlen lassen sich die Veränderungen gut nachweisen.

1. In Hamburg leben die Menschen deutlich komfortabler als vor gut vier Jahrzehnten. Dem Statistischen Landesamt Nord zufolge gibt es heute deutlich mehr Wohnhäuser und deutlich mehr Wohnungen. 1969 existieren rund 182.000 Wohngebäude. Heute sind es fast 241.000. Die Zahl der Wohnungen erhöhte sich in den vergangenen 40 Jahren um mehr als 200.000. 1969 lebten die Menschen in rund 688.000 Wohnungen. Heute wird der Wohnungsbestand mit fast 900.000 beziffert. Eine andere Zeit: "Man muss sich vorstellen: Damals lebten viele Hamburger noch in Behelfsheimen, den Nissenhütten", sagt der frühere Oberbaudirektor Müller-Ibold, der 1972 als Gründungsprofessor der Universität Dortmund nach Hamburg berufen wurde. Man wohnte damals oft zur Untermiete, verwitwete Eltern zogen zu ihren Kindern aufs Altenteil, weil sie eine Wohnung allein nicht mehr halten konnten. Noch immer war das Land geprägt davon, dass es Millionen von Flüchtlingen und Ausgebombten mit Wohnungen versorgen musste. Um die 12.000 neue Einheiten plante die Behörde in Hamburg seinerzeit. Unter Müller-Ibold entstanden Großwohnsiedlungen wie Mümmelmannsberg. "Wir wussten, dass es dort zu sozialen Problemen kommen könnte, haben viel mit Soziologen diskutiert - aber es blieb uns keine andere Wahl", sagt er.

2. Parallel dazu stieg die Zahl der Haushalte in Hamburg. Ende der 1960er-Jahre wurden in der Hansestadt rund 796.000 Haushalte gezählt. Heute sind es mit rund einer Million Haushalte mehr als 200 000 mehr als vor gut 40 Jahren. Mit diesem Anstieg geht eine signifikante Änderung bei der Zahl der Personen einher, die in einem Haushalt leben. So hat sich die Haushaltsgröße umgekehrt. Die Zahl der Einpersonenhaushalte stieg von fast 285.000 auf 517.000. Mit anderen Worten: Heute sind mehr als die Hälfte der Haushalte in Hamburg Singlehaushalte. Im Gegenzug sank in den vergangenen Jahrzehnten die Zahl der Haushalte, in denen Familien mit vier und mehr Menschen lebten, deutlich: von fast 135.000 auf inzwischen rund 90.000.

3. Obwohl das Jahr 1969 das Ende des Babybooms markierte, lag das Durchschnittsalter der Einwohnerinnen und Einwohner von Hamburg seinerzeit nicht viel niedriger als heute. 1969 betrug es 39,3 Jahre, heute liegt das Durchschnittsalter bei 42,5 Jahren. Was die Überalterung unserer Gesellschaft angeht, so hat Hamburg noch etwas Schonzeit, weil in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich viele junge Erwachsene zuzogen. Während Experten davon ausgehen, dass gut jeder dritte Deutsche im Jahr 2020 älter als 60 Jahre alt sein dürfte, wird dieser Wert in Hamburg erst 2030 erreicht.

4. Signifikante Unterschiede gibt es im Bildungsbereich. So sank in Hamburg die Zahl der Schülerinnen und Schüler an allgemeinbildenden Schulen von fast 215 000 im Schuljahr 1969/70 auf rund 170 000 zuletzt. Mehr als diese Zahl spiegeln jedoch die Schülerzahlen an den verschiedenen Schularten die Veränderungen im Hamburger Bildungssystem wider. So hat sich die Zahl der Schüler an einer Grund- und Hauptschule - in erster Linie, weil es kaum noch Hauptschüler gibt - von rund 150.000 auf etwa 61 000 mehr als halbiert. Noch dramatischer sieht es bei den Realschülern aus, deren Zahl von fast 17 000 im Schuljahr 1969/70 auf zuletzt etwa 2000 sank. Die früheren Haupt- und Realschulen wurden durch Gesamtschulen abgelöst, sodass sich in Hamburg die Zahl der Schüler an Gesamtschulen von 2100 auf rund 47.000 erhöhte. Deutlich gestiegen ist auch die Zahl der Gymnasiasten: von fast 38 000 Ende der 1960er-Jahre auf inzwischen etwas mehr als 47.000. Wie grundlegend sich das Hamburger Schulsystem verändert hat, belegen die Zahlen der Schülerinnen und Schüler, die mit Hochschulreife ihre Bildungseinrichtung verließen. Ende der 60er-Jahre lag deren Zahl bei etwas mehr als 1900. Inzwischen liegt die Zahl des Statistischen Landesamts Nord bei fast 12 200. Mit dem gestiegenen Bildungsstand der Schulabgänger geht die Zahl der Studierenden in Hamburg einher. Sie vervierfachte sich in den vergangenen vier Jahrzehnten von rund 20.000 auf inzwischen mehr als 80.000. 5. Die Zahl der erwerbstätigen Hamburger stieg in dieser Zeit nicht annähernd so deutlich. 1970 waren den Statistikern zufolge rund 830.000 Einwohner der Hansestadt erwerbstätig. Im vergangenen Jahr lag ihre Zahl bei etwas mehr als 900.000. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in dem eher moderaten Anstieg der Erwerbstätigenquote in Hamburg wider. Diese lag 1970 bei 46,2 Prozent und im vergangenen Jahr bei 50,5 Prozent.

6. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung ging ein Anstieg des Wohlstands einher. So zeigt sich das daran, dass die Größe der Haushalte gesunken und als Folge davon auszugehen ist, dass der für den Einzelnen zur Verfügung stehende Wohnraum deutlich größer wurde. Die Wohlstandsgesellschaft zeigt sich auch an der Zahl der in Hamburg zugelassenen Autos, die von fast 400.000 im Jahr 1969 auf rund 730.000 im vergangenen Jahr stieg - während die Einwohnerzahl eben wieder vergleichbar groß ist.

Doch woran mag diese Wellenbewegung gelegen haben? Vom Schrumpfen ab 1969 und dann wieder zum Anstieg der Einwohnerzahlen bis heute?

Hauptgründe dürften der Geburtenrückgang und eine starke Abwanderung von Familien ins Hamburger Umland gewesen sein - mit all ihren Folgen wie etwa den langen Pendlerströmen auf den Straßen.

Diese Wanderung sei vor allem eine Verdrängung gewesen, sagt Ex-Oberbaudirektor Mülller-Ibold. Dienstleister zogen verstärkt mit ihren Büros in die City - wo Familien dann kaum noch Wohnraum fanden. Man muss auf die Zahl der Arbeitsplätze schauen, um zu sehen, wie viel Wohnungen die Stadt benötigt, sagt er. Und diese Zahl sei eben gewachsen. Der Trend zurück markiert dann auch einen Wandel in der Arbeitswelt, sagen Stadtforscher wie der Stadtgeograf Thomas Pohl.

Das Wohnen im Umland funktionierte eben nur mit den festen Arbeitszeiten jener Zeit. Mit Jobs, die auf eine feste Kernzeit wie von 9 bis 17 Uhr festgelegt waren. "Dann konnte man sicher sein, um 17 Uhr den langen Weg zurückantreten zu können", sagt Pohl. Doch alles wird flexibler, schneller, unsicherer. "Heute gibt es oft weniger Arbeitnehmer mit festem geregelten Einkommen und Zeiten", sagt auch der Regionalökonom. Zudem seien auch weit mehr Frauen berufstätig und auf die direkte Kommunikation im Umfeld des Berufs angewiesen.

Viel häufiger als in den 1970er-Jahren suchen junge Familien daher eine Wohnung wieder in der Stadt. Und die Stadt gilt als Magnet für junge Menschen mit guter Ausbildung. Getragen wurde der Zuwachs der jüngsten Jahre daher vor allem von jungen Menschen zwischen 18 und 30 Jahren, die oft aus Ostdeutschland in die Hansestadt zogen. Doch dieses Potenzial sei ausgeschöpft, warnen Forscher.

Regionalökonom Läpple sagt dazu: "Für Hamburg tickt da eine Zeitbombe." Oder anders: Die Zeiten der viel zitierten Wachsenden Stadt - sie könnten eben auch ganz schnell wieder vorbei sein.