Jochim Westphalen fuhr drei Jahrzehnte zur See, liebte die Seefahrt aber nicht vom ersten Moment an. Kapitän zeigt Besuchern sein Blankenese.

Hamburg. Der rote Faden zieht sich durch die Stadt: Er verbindet Menschen, die einander schätzen, bewundern, überraschend finden. Sie entscheiden, an wen sie ihn weiterreichen: an andere, die hier arbeiten, die Besonderes für diese Stadt leisten, die in Hamburg als Vorbilder gelten. Folge 51: Jochim Westphalen. Er bekam den roten Faden von Pastor Klaus-Georg Poehls.

Sehnsuchtsvolle Blicke anderer, die auf ihn und seine kleine Welt fallen, kennt Jochim Westphalen. Jeden Tag beobacht er Spaziergänger, die an seinem Haus an der Blankeneser Hauptstraße vorbeiflanieren. Und verzückt die pittoresken, manchmal windschiefen Häuser anschauen, über die gewundenen Wege lachen, beim Anblick der vielen Treppenstufen seufzen. Die malerische Schönheit des Blankeneser Treppenviertels mit den unzähligen reetgedeckten Fischerhäuschen, die wie zusammengewürfelt, aber dennoch selbstbewusst neben neuen Immobilien thronen, verzaubert die Besucher.

Und Westphalen selbst auch. Jeden Tag aufs Neue. Obwohl er - bis auf zwei Jahre als Kleinkind - bereits sein gesamtes Leben hier im Hamburger Elbvorort, dem ehemaligen Dorf der Fischer, Lotsen und Kapitäne, verbringen durfte. Die Familie mütterlicherseits sei seit mehr als 500 Jahren in Blankenese ansässig. "Ich gehöre zum ältesten Blankeneser Geschlecht", sagt Westphalen. Auch wenn er das schon oft erzählt hat, er klingt ein bisschen stolz dabei. Wie ein Mann, der weiß, wo er hingehört. Weiß, wo er nicht mehr weg will. In andere Stadtteile Hamburgs? Nee, da sei er "eigentlich nie". Der 75-Jährige schmunzelt.

Seit 50 Jahren lebt er mit seiner Frau Greta in diesem Haus. Von der braun gefliesten Terrasse seines Heims aus blickt er durch eine breite Schneise von oben auf die Elbe, sieht die Schiffe und Tanker aus aller Welt vorbeituckern. Am anderen Ufer des Flusses liegt die Sietas-Schiffswerft in Cranz. "Die älteste Werft der Welt", weiß Westphalen. Mit dem Blick hinüber schließt sich für ihn der Kreis seines Lebens. "Jau, das stimmt wohl." Mit 15 Jahren, 1951, fuhr der Hamburger Jung erstmals zur See. Von Cranz aus. Es schien ihm in die Wiege gelegt worden zu sein, die Affinität zum Wasser. "Mein Vater war Tauchermeister, er kontrollierte die Schleusenschienen in den Schleusen von Brunsbüttel", sagt der Mann, der mit drei Schwestern groß wurde. "Als ich zwei Jahre alt war, zog die Familie wieder hierher und mein Vater verdiente sein Geld als Schlicktaucher." Westphalens Urgroßvater war als Eigner und Kapitän mit eigenen Schiffen unterwegs, der Großvater fuhr auf großen Passagierdampfern durch die Welt.

Westphalens Familie wohnte an der Hans-Lange-Straße, nur einen Steinwurf von der Elbe entfernt. "Mein Kindergarten war der Strand. Ein echter Kindergarten war nur was für Gutsituierte", sagt er und lächelt dabei. Schließlich ging seine heutige Ehefrau in eine der Gruppen. Erst zog er sie an den Zöpfen, neckte sie, dann verliebten sich die beiden. Als er 27 Jahre alt war, heirateten sie. Am Wochenende nach der verheerenden Flutkatastrophe von 1962, natürlich in der Blankeneser Kirche. Die erste Tochter Dörthe war im Anmarsch. Greta Westphalen stammt aus dem Ur-Blankeneser Geschlecht der Breckwoldts. "Fischhandlung Julius Breckwoldt, da, die wohnten gleich da drüben", sagt er und deutet nach links.

Westphalen sitzt dabei an einem langen Holztisch mit blau-weiß gemusterter Tischdecke im verglasten Wohnzimmer, vor ihm liegen mehrere alte Schulhefte und Alben. Beweise dafür, dass er "schon immer Schiffe-verrückt" gewesen sei: Statt Schulaufgaben zu machen, hat er Bilder von Schiffen und Zeitungsausschnitte über Schiffe ausgeschnitten und eingeklebt. Ein gehöriger Stapel liegt vor dem Mann. Postkarten vom Großvater, "5.2.1899 Gibraltar, 7.2. Algier, Madeira, Malta, Nizza", zählt er auf.

Doch Westphalen liebte die Seefahrt nicht vom ersten Moment an, als Schiffsjunge habe er sich, als er damals in Cranz an Bord ging, erst mal "in die Koje gehauen und geheult". Auf Heldengeschichten mit meterhohen Wellen, mit haushohem Seegang und brenzligen Situationen kann er getrost verzichten. Macht den Seebären sympathisch. Außerdem hat er auch so reichlich zu erzählen. "Ich habe meinen Beruf geliebt, aber ich habe immer Heimweh gehabt und bin 21 Jahre lang seekrank gewesen", sagt er. Erst für die letzten acht, neun Jahre seiner Karriere auf hoher See entdeckte er Cola und Salzstangen als erprobtes Hilfsmittel gegen den Aufstand im Magen.

Nach seiner Zeit als Schiffsjunge besuchte er als 17-Jähriger die Steuermannschule in Hamburg, machte "mehr schlecht als recht" sein Patent, ging als Steuermann auf ein Küstenmotorschiff. Wieder fuhr er weit weg von Blankenese, durch die Welt. Er kam erst zurück, als das Baby geboren war. Ob ihn es nicht manchmal traurig gemacht habe, vieles daheim zu verpassen? Ein untypisches Schweigen. Kurz ist es sehr still. "Das Leben war einfach so. Es gab gewisse Entbehrungen, aber es war einfach so." Seinen Job habe er deshalb nie verflucht, "aber es ist ein sehr harter Beruf", sagt er. "Es hat etwas sehr Schönes, Forderndes, wenn man auf See ist." Ladungen im Wert von vielen Millionen Mark wurden ihm anvertraut, damit musste er Hurricanes durchfahren, war allen Gefahren des Meeres ausgesetzt. Durch die 30 Jahre auf See - dabei war er mit einem Bananendampfer am Äquator oder mit dem ersten Rickmers-Schiff nach dem Krieg in Shanghai, er transportierte 13 000 Tonnen Düngemittel nach Tschechien und Sojabohnen zurück nach Hamburg - sah er die ganze Welt. Und er erkundete an Land immer lieber die fremden Städte als die Kneipenlandschaft. Immerzu spürte er in den Jahren die Verantwortung, genoss aber auch die damit einhergehende Herausforderung. Sein Fazit: "Wenn man nicht auch Angst hat, kann man den Job nicht machen."

Wie eine Entschädigung müssen sich für die kleine Familie seine ersten Jahre als Kapitän angefühlt haben. Eine wahrlich romantische Zeit: Westphalen ist nun der Chef auf einem Küstenmotorschiff und kann seine Frau und Tochter mitnehmen. Bald folgt Tochter zwei, Gesine, dann Tochter drei, Meike. Sechs Enkel haben sie ihm und seiner Frau mittlerweile geschenkt. Westphalen ist ein stolzer Opa, über dem Esstisch hängt ein selbst gebasteltes Mobile mit sechs Walnussschalen als Schiffsrümpfe und Segel, auf denen die schon etwas vergilbten Fotos der nächsten Generation zu sehen sind. Nach den Jahrzehnten auf See - die Kinder waren mittlerweile aus dem Haus, seine Greta viel allein - nahm Westphalen das Angebot an, von Hamburg aus eine neue Skandinavienlinie aufzubauen. "Meine Chance, an Land zu gehen", sagt er. "Für mich war das toll, eine spannende Geschichte, die ich zwölf Jahre lang sehr gern gemacht habe." Mit 57 steigt er jedoch aus. Sein Herz und der Kardiologe raten ihm eindringlich dazu. Doch hatte vielleicht auch seine Ehefrau gehofft, ihren Jochim nun öfter bei sich im Haus zu haben, so irrte sie sich: Westphalen legte erst so richtig los.

Er ist im Vorstand des Blankeneser Segelclubs (BSC), hat sich dort besonders für die Jugend engagiert, er hat das sogenannte Tuckerboot-Ballett konzipiert, nachdem er sich eines Tages ein "Tuckerboot", ein adrettes Holzboot gekauft hatte. Andere Blankeneser machten es ihm nach und seit 1985 hat der BSC eine kleine "Tuckerboot-Flotte", die - wie die großen Schlepper beim Schlepperballett - zur 100-Jahr-Feier 1998 des Clubs in Formation fuhren. Nebenbei noch restauriert er Schiffsmodelle und bemalt Zigarrenkisten. Mit Schiffsmotiven.

Kapitän Westphalen liebt eben alles, was mit Wasser zu tun hat. Besser: mit Elbe und mit Blankenese. Denn als Ureinwohner sieht er es auch als seine Aufgabe an, das Wissen über seinen besonderen Stadtteil lebendig zu halten und weiterzugeben.

"So gar nix zu machen, das ist nicht so meins", sagt er. Die Gäste des edlen Hotel Louis C. Jacob an der Elbchaussee freuen sich deshalb jedes Jahr über den Seebären mit der Kapitänsmütze, der mit ihnen am Altjahrsabend eine Wanderung durch sein winterliches Blankenese macht. "Da erzähle ich den Leuten einfach alles von Blankenese", sagt er. Mit den Interessierten fährt er dazu mit der Fähre nach Teufelsbrück, beim Bäcker isst er mit ihnen Linsensuppe. Zu Fuß geht es zurück, bevor am Abend das neue Jahr begrüßt wird. Westphalen führt alle sicher heim.

Er ist schließlich der Kapitän. Auf der See. Und auch an Land.

Jochim Westphalen reicht den roten Faden nächste Woche an den Hamburger Maler Hinnerk Bodendieck weiter. "Der ist so was von begnadet", sagt er.