Spontaneität gibt es für Rollstuhlfahrer nicht - alles bedarf logistischer Planung

Hamburg. Unser Autor ist einer von 1,56 Millionen Rollstuhlfahrern in Deutschland. In seinem Beitrag schildert er ungeschminkt, wie hart und voller Tücken sein Alltag in Hamburg ist.

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Mit dem Schock, sein Leben in Starre zu verbringen, auf ständige Hilfe angewiesen zu sein, muss jeder für sich allein fertig werden. "Wir werden den Begriff Geduld für uns neu definieren müssen", sagte der Vater von Samuel Koch in einem Interview. Geduld - das impliziert die vage Hoffnung, dass es in weiter Ferne doch noch zu einer Besserung, vielleicht sogar zu einer vollständigen Heilung kommen wird.

Dum spiro, spero, schrieb Cicero einst an Atticus. Ein Satz, der uns Lateinschülern flott über die Lippen ging. Solange ich lebe, hoffe ich. Macht die Medizin nicht ständig Fortschritte? Man denke nur an die Experimente mit Stammzellen, an die Erfolge bei der Züchtung von Nervenzellen im Labor. Und war nicht erst kürzlich im Hamburger Abendblatt zu lesen, das Krebsmittel Taxol fördere die Regeneration von geschädigten Nervenfasern?

Solcherlei Nachrichten waren der Strohhalm, an den auch ich mich geklammert habe, in den ersten Monaten meines neuen Lebens jedenfalls. Irgendwann aber ist es mit dem Hoffen vorbei, man muss sich den Realitäten stellen.

Es sind die unzähligen Hürden, die uns Rollstuhlfahrer - in Deutschland sind es 1,56 Millionen - zu schaffen machen. Fast jedes Hilfsmittel muss der Krankenkasse mühselig abgetrotzt werden. Verladerampe? "Keine Kassenleistung." Neuer Rollstuhl? "Da haben wir noch ein altes Schätzchen im Bestand."

Ein kaputtes, total abgenutztes Teil, wie sich herausstellt. Ein halbes Jahr dauert es, bis endlich das vom Arzt verordnete Modell angeliefert wird. Sechs Monate, in denen ich ans Haus gekettet bin. Das ist wie sechs Monate Knast, nur ohne Aufsicht.

Nichts ist mehr selbstverständlich, jede Bahnreise, jeder Theater-, jeder Museums-, jeder Restaurantbesuch erfordert hohen logistischen Aufwand. Sind Parkplätze für Behinderte in der Nähe? Hat der Eingang Treppenstufen? Liegen die Toiletten ebenerdig? Gibt es ein Behinderten-WC mit Handlauf zum Umsteigen und unterfahrbarem Waschtisch?

Früher, unter der künstlerischen Leitung von Ulrich Waller, waren meine Frau und ich Stammgast in den Kammerspielen. Damit ist es vorbei: zu viele Treppen, kein Aufzug. Das Gleiche gilt für viele andere Theater. Fast überall heißt es: Wir müssen draußen bleiben. Wie bei Hunden vor der Metzgerei.

Selbst wenn alle Voraussetzungen stimmen, kann es passieren, dass die Plätze für Rollstuhlfahrer bereits vergeben sind. Das Kartenkontingent für Besucher auf Rädern ist meist knapp bemessen. So hält die Hamburgische Staatsoper vier Plätze im Parkett, Reihe 25, für Rollifahrer bereit. Allerdings nur bei Opern. Bei Ballettaufführungen sind es, aus welchen Gründen auch immer, lediglich zwei.

Die Liste der Orte, die Menschen mit schwerem Handicap vergessen können, ist schier endlos. Ausgenommen sind weder Kirchen noch Schwimmbäder (Bartholomäus-Therme, Holthusenbad, Kaifu-Bad). Sogar einige Altentagesstätten sind nicht barrierefrei, drei allein in Harburg.

Speziell die historischen Bauten lassen sich, wenn überhaupt, nur mit viel Geld behindertengerecht umbauen. Aber wo ein Wille ist, ist oft auch ein Weg: Die Koralle in Volksdorf, ein mit Bürgerinitiative errichtetes Kino in einem fast 100 Jahre alten Umspannwerk, hat nicht nur ein feines, mehrfach preisgekröntes Filmprogramm.

Trotz hoher Kosten (1,1 Millionen Euro) gab's nie Diskussionen, dass ein moderner Aufzug für die Fußlahmen berücksichtigt werden musste. Er pendelt jetzt zwischen Jazzkeller im Tiefgeschoss und zwei Kinosälen im ersten Stock.

In meinem Leben als Fußgänger habe ich quasi blind einen Tisch bestellt, wenn ich ein neues Restaurant ausprobieren wollte. Was interessierte es mich, wenn eine Treppe ins Reich der Genüsse führte und wenn die Toiletten im Keller lagen! Hauptsache, der Koch war in Höchstform. In meinem Leben als Rollstuhlfahrer kommt von zehn Lokalitäten höchstens noch eines infrage. Das Marlin von Michael Wollenberg in Langenhorn ist so eine rühmliche Ausnahme. Es hat eine exzellente Küche, nirgendwo Stufen und ein großzügiges Behindertenklo. Ach, gäbe es doch mehr davon!

Besonders mau sieht es bei den Hotels aus. Das Buch "Handicapped Reisen", eine Art Varta-Führer für Rollstuhlfahrer, listet in seiner 21. Auflage knapp 400 vorbildliche Unterkünfte in Deutschland für Menschen mit Behinderung auf. Hamburg "glänzt" gerade mal mit einem Haus (AquaSport, Hotel am Olympiastützpunkt), gleichauf mit Erlangen, Neuss oder Dippoldiswalde. Berlin hat immerhin sieben Einträge, das "kleine" Leipzig vier. Schlampige Recherche? Oder traurige Realität?

Teuer wird ein Handicap allemal. Jeder Besuch bei unseren Berliner Freuden, die in einem Altbau ohne Aufzug wohnen, kostet jetzt 80 Euro - für den privaten Pflegedienst, der mich auf einem Tragesitz in den fünften Stock schleppt.

Das sind freilich Peanuts im Vergleich zu den Umbauten im Haus und am Auto. Da sind schnell hohe fünfstellige Beträge fällig. Wer im oberen Stock eines Hauses ohne Aufzug wohnt, kann gleich die Möbelpacker bestellen.

Am härtesten trifft viele der berufliche Untergang. Ich war mit dem Tag der Operation schlagartig erwerbsunfähig. Ein Pflegefall mit Anfang 50. Wer in dieser Situation ohne finanzielle Rücklagen dasteht und nicht ordentlich versichert ist, kann sich auf ein Leben in Armut einstellen.

Behinderung und Armut sind häufig miteinander verflochten. Ein Drittel der allein lebenden Behinderten zwischen 25 und 45 Jahren lebt nach Berechnungen des Sozialverbandes VdK von einem Haushaltsnettoeinkommen von unter 700 Euro.

Die Partner eines Querschnittgelähmten sind ebenfalls gelackmeiert. Ständig bittet der Pflegefall um Hilfe: Reich mir mal das Hemd. Ziehst du mir die Schuhe aus? Holst du mir die Zeitung aus dem Briefkasten? Das führt fast zwangsläufig zu Spannungen, zumal der an den Rollstuhl gefesselte Mensch zu Ungeduld neigt.

Neue Untersuchungen deuten darauf hin, dass Angehörige mittelfristig sogar höher seelisch belastet sind als direkt Betroffene. Zur physischen Katastrophe gesellt sich nicht selten die Trennung vom Partner. Verkrüppelt, gelähmt, entstellt, allein gelassen: Die Tragödien, die sich im Unfallkrankenhaus Boberg abspielen, sind herzzerreißend.

Mich persönlich ärgert am meisten die Ohnmacht, zum ständigen Zuschauen verurteilt zu sein. Nicht helfen zu können. Ich sitze im Auto und sehe im Rückspiegel, wie meine Frau den Rollstuhl über die hohe Ladekante in den Gepäckraum astet. Ich sehe zu, wie sie tankt, Reifendruck und Ölstand prüft - eine Arbeit, die sie wie alle Frauen hasst und die sie mir früher gern überlassen hat. Ich sitze am Wohnzimmerfenster und sehe zu, wie sie nach Feierabend den Rasen mäht, wie sie Unkraut jätet, die Maulwurfshügel mit dem Spaten abträgt. Ich sitze, sitze, sitze.

Wie man weiß, ist Samuel Koch praktizierender Christ. Vielleicht hilft ihm sein starker Glaube, sein Schicksal anzunehmen. Meine Fluchtburgen sind Bach, Schubert und Beethoven, John Updike und Ian McEwan. Oder auch ein Glas Rotwein.

Aber es gibt Tage, da beneide ich Samuel um seinen Draht nach oben, der bei mir irgendwann gerissen ist. Tage, die auch mit klassischer Musik und Büchern nur grau in grau sind. Tage, an denen sich das Gift in der Seele ausbreitet. Die angefüllt sind mit Selbstvorwürfen, voreilig in eine Operation eingewilligt zu haben. Mit zerstörtem Vertrauen und Zweifeln an der Integrität der Ärzte.

Das Ganze tue ihm leid, sagte mir mein Operateur in einem langen Telefonat, und ich meinte zu spüren, wie sehr er selber litt. In einem Brief, den mir die Post ein paar Tage später zustellte, schrieb Dr. Sander, er bedauere sehr, dass er mir mit der Operation nicht habe helfen können. Der Eingriff sei alles andere als einfach gewesen. Keine Rede von unterschätzten Risiken, geschweige denn Fehlern bei der Operation oder beim Umbetten. Die Rechtsabteilung ließ grüßen.

Nach Rückkehr aus Berlin - drei Tage sind verstrichen - steht der Aufzug am Ausgang ZOB immer noch still. Immerhin hängt jetzt eine frische Information an der Glastür: Ein Ersatzteil muss herbeigeschafft und eingebaut werden. Nirgendwo eine Telefonnummer für den Notfall.

Diesmal trägt mich Arthur. Über mangelnde Hilfsbereitschaft der Hamburger kann ich mich wirklich nicht beklagen. Auffallend oft sind es Ausländer beziehungsweise Menschen mit Migrationshintergrund (und hier besonders Frauen), die mich in prekären Situationen ansprechen und helfen wollen.

Entnervt rolle ich zum Büro der Hochbahn und frage nach der Ursache für die ständigen Fahrstuhl-Ausfälle. Schuld, erfahre ich, seien die Lieferanten, die die Geschäfte unter der Erde mit Waren beliefern. Sie würden häufig das zulässige Höchstgewicht überschreiten.

Das Problem mit den defekten Aufzügen scheint nicht nur in Hamburg eine Seuche zu sein. In der Hauptstadt erzählte mir der freundliche Helfer von der Bahn, dass die Technik auch schon Altkanzler Helmut Schmidt einen Streich spielte. Er musste mit dem Feuerwehr-Lift zum Gleis gebracht werden.

Noch bin ich nicht sicher zu Hause, noch eine letzte Etappe mit der U-Bahn. Beim Aussteigen passiert es: Die kleinen Lenkräder des Rollstuhls verkanten sich im Spalt zwischen Bahnsteigkante und U-Bahn. "Zurückbleiben, bitte", fordert eine energische Lautsprecherstimme. Nur durch das schnelle Eingreifen zweier Fahrgäste kann ich aus meiner Zwangslage befreit werden. Ein ganz normaler Katastrophen-Tag neigt sich dem Ende.

*) Die Namen wurden geändert