Ein Haus an der Dorotheenstraße soll saniert werden, doch die Balkone wurden ohne Sicherung abgebaut. Vermieter vergibt den Auftrag neu.

Winterhude. Werner Egge hat ein finsteres Wochenende hinter sich. Dicke Holzplatten versperrten dem 72-Jährigen die Sicht aus Küchen- und Wohnzimmer. So sollten in Richtung Fenster fliegende Steinen abgehalten werden. Immerhin konnte der Rentner mithilfe von künstlichem Licht kochen. "Bei meiner Nachbarin sind wegen der Erschütterungen einfach die Hängeschränke in der Küche von der Wand geflogen", sagt Egge. Was nach Krisenregion klingt, spielt sich im schönen Winterhude ab. Eine Krise gibt es trotzdem - sie nennt sich Baupfusch.

Begonnen hatte alles ganz harmlos Anfang dieses Jahres. Ein Brief kündigte die Sanierung des Mietshauses in der Dorotheenstraße an. Neue Fenster, Ausbau des Dachgeschosses, Wärmeisolierung, Fernwärme, neue Leitungen - klang alles plausibel, schließlich soll Energie gespart werden. Viele Schreiben folgten. In einem wurden die Bewohner darauf hingewiesen, dass ihre Mieten nach der Modernisierung um 182 Euro und 17 Cent pro Monat steigen. "Irgendwann hieß es auch mal, dass die Balkone zurückgebaut werden", sagt Egge. Warum dies nötig sei, verstehe er auch nicht.

Ein Mieter zog aus, zwei weitere haben bereits gekündigt, und eine weitere Mieterin überlegt, denselben Schritt zu tun. "Das ist eine alleinerziehende Mutter", sagt Egge. "Da sind fast 200 Euro eine Menge Geld." Auch Egge war brüskiert, will aber bleiben. "Ich wohne seit 1975 hier in meinem Viertel." 575 Euro Warmmiete zahlt er für gut 60 Quadratmeter. Eher ein Schnäppchen für Winterhude. Ende Juni bauten Bauarbeiter ein Gerüst vor dem Klinkerbau auf. Am 2. Juli begannen die Arbeiten. "Bitte räumen Sie dafür die Balkone", steht in einem Informationsschreiben. Pro abzureißenden Balkon wurde eine Dauer von einem halben Tag veranschlagt.

"Es war nicht mehr möglich, hier zu wohnen", sagt Egge. Neben der Dunkelheit machte ihm und seinen Nachbarn vor allem der enorme Krach der Presslufthammer zu schaffen. "Der war lauter als üblich. Hier hat alles vibriert und gewackelt." Am Freitag kam dann der berühmte letzte Tropfen. Ein Nachbar aus dem Erdgeschoss sieht, wie zwei Bauarbeiter im vierten Stock ohne Helm und Sicherung auf dem verbleibenden Rumpf der Balkone stehen und vor sich den Beton weghämmern. "Ich habe mich nicht getraut, zu meiner eigenen Wohnungstür zu gehen", sagt er. Ständig seien schwere Brocken nach unten gefallen, bis hin zur Straße. Die Fußgänger hatten bereits die Seite gewechselt. Ein großer Stein fällt gegen eine der mit Holz gesicherten Balkontüren, die daraufhin aufspringt. "Das war einfach unglaublich gefährlich."

Die Mieter verständigen das Amt für Bauordnung. Kurz vor den Beamten trifft die Polizei ein und stoppt die Arbeiten. Laut der zuständigen Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt war Gefahr im Verzug. "Es bestand eine Gefahr für Arbeiter und Passanten", sagt Sprecherin Kerstin Graupner. Seitdem ruht die Baustelle.

"Ich verstehe einfach nicht, wie vermeintliche Abrissprofis so unstrukturiert vorgehen können", sagt Egge. "Und so skrupellos mit Mietern umgegangen werden kann. Es interessiert die nicht, ob wir hier im Dunkeln sitzen. Das ist hier schließlich kein Rohbau, hier wohnen Menschen."

Eigentümer des Wohnhauses ist eine Privatperson, verwaltet wird es von der Grundstücksverwaltung Kehrwieder. "Wir sind sehr dankbar, dass die Bewohner jemanden zu Hilfe gerufen haben", sagt eine Mitarbeiterin auf Abendblatt-Anfrage. "Das ist für alle eine unangenehme Situation." Die Inhaberin des Unternehmens sei am Freitag persönlich vor Ort gewesen, um zur Lösung des Problems beizutragen.

Auch der zuständige Bauleiter zeigt Bedauern. "Ich wurde genauso von den Ereignissen überrollt", sagt Ingenieur André Ludanek. "Eine Firma, die derart unfachmännisch arbeitet, ist mir noch nie untergekommen." Er habe zum ersten Mal mit dem Abrissunternehmen zusammengearbeitet. Er habe vorab mit dem Geschäftsführer und mit dem Vorarbeiter gesprochen. "Die haben einen kompetenten Eindruck gemacht." Das Abrissunternehmen selbst war auch auf wiederholte Abendblatt-Anfrage nicht erreichbar.

Nun soll ein anderes Unternehmen den Auftrag übernehmen. "Die Holzplatten werden sofort entfernt", sagt Bauleiter Ludanek. "Nach aktueller Planung sollen die Bauarbeiten im Laufe der Woche aufgenommen werden."