Eine Glosse von Tino Lange

Beim Lesen der "einestages"-Rubrik auf "Spiegel Online" überfiel mich ein akuter Anfall von Scham. Nicht weil der Text über die Kulturgeschichte der Warteschlange schlecht war, im Gegenteil. Aber er erinnerte mich an den letzten Poetry-Slam im Literatur-Café Mathilde. In der Pause wollte ich nur schnell zwei leere Bierkannen am Tresen abstellen: An der Schlange vorbeihechten, Leergut loswerden, zurück auf den Sitz, so der Plan. Die Bardame hat sich gefreut: "Oh, das ist aber nett. Zwei neue?" "Ööh ... ja ... warum nicht?" Sieben Augenpaare hinter mir glühten im Zorn, wie "Dschungelbuch"-Python Kaa Betäubungssblicke auf das Kaninchen vor der Schlange schießend.

Peinlich. Ich bitte an dieser Stelle um Entschuldigung. Ich stehe stets gern an. Denn Warteschlangen sind nicht nur Zeichen von Disziplin und übermenschlicher Geduld. Sie sind Indikator für Nachfrage eines Angebots, eines Bedürfnisses, eines Begehrens. Ob vor der WC-Batterie auf dem Hurricane-Festival, am Theater-Eingang bei großen Premieren oder am Eingang des Obstladens, wenn Apple frische Ware liefert. In der Schlange lernt man Demut: die Tugend, die aus dem Bewusstsein unendlichen Zurückbleibens hinter der erstrebten Vollkommenheit hervorgehen kann, wie Philosoph Georgi Schischkoff schreibt. Man lernt Leute kennen. Man lernt seinen Betäubungsblick gezielt einzusetzen.

So ist eine Warteschlange kein Ärgernis, sondern vielmehr ein Grund zum Feiern. Die langsamste Polonaise der Welt, und wir sind dabei! Wer sich da vorbeidrängelt, hat was verpasst.