Die Politik lebt ganz wesentlich von Diskretion und Insiderwissen - auch in Zeiten der Internetvoten

"Politik muss transparenter sein!" Viele Abgeordnete und Minister nicken beifällig zu diesem Satz, besonders seit dem Höhenflug der Piraten-Partei. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, bezeichnete das verbreitete Unbehagen vieler Menschen an der Politik und ihrer Vermittlung als "Evidenz weithin geteilter Unzufriedenheit", die zu Konsequenzen führen müsse.

Teilweise sind die ja auch gezogen worden. Als Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer über höhere Bußgelder für bestimmte Verkehrsdelikte sinnierte, holte er Bürgervoten übers Internet ein. Mitgliederentscheide über Spitzenkandidaten gehören fast schon zum Repertoire; es ist auch durchaus sinnvoll, die Parteimitglieder im Netz um Vorschläge für zündende Wahlkampf-Slogans zu bitten. Wohlgemerkt: die Mitglieder, nicht jedermann! Sonst schwindet vollends der Reiz, sich einer Partei anzuschließen und dort aktiv mitzuwirken.

So weit, so gut. Mehr Bürgerbeteiligung? Ja bitte. Transparenz und frühzeitige Offenlegung aller wesentlichen politischen Vorhaben? Nein danke. Das würde Politik beliebig und sprunghaft, populistisch und letztendlich verlogen machen. Sogar Bernd Schlömer, der Bundesvorsitzende der Piraten, räumt ein, dass trotz aller Freiheit beim Diskutieren im Netz irgendwo noch ein Eckchen für Vertraulichkeit und Geheimnisse bleiben müsse. Das haben aber große Teile der Parteibasis (noch?) nicht verinnerlicht. Die schleswig-holsteinischen Piraten haben die famose Forderung nach einem "Bürger-Haushalt" erhoben: Jeder Bewohner des Landes sollte online sagen, für welche Projekte er mehr Geld ausgeben, welche er kürzen oder gar streichen wolle.

So nett das klingen mag - es geht nicht! Politik darf sich nicht nur nach dem Mainstream der Meinungen richten. Sie muss auch unbequem, ja schwer nachvollziehbar sein.

Kaum jemand würde sich noch für ein Abgeordnetenmandat auf Bundes- oder Landesebene bewerben, wenn er ständig damit rechnen müsste, für seine Überzeugungen je nach Befindlichkeit der Netz-Gemeinde abgestraft zu werden. Oder er würde bei Rechenschaftsberichten auf seiner Homepage ehrliche Bekenntnisse lieber weglassen und stattdessen Gefälliges übermitteln.

Politiker sollten den Bürgern sagen, wo Transparenz ihre Grenzen findet! Vorarbeiten zu Anträgen und Gesetzesänderungen brauchen die Verschwiegenheit des Hinterzimmers. Sie müssen mithilfe von Experten aus Ministerien und Fraktionen Satz für Satz durchforstet und diskutiert, auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin abgeklopft, im Streitfall unter Koalitionspartnern konsensfähig gemacht werden. Kaum ein Außenstehender kann sich vorstellen, wie schwierig es vor einigen Jahren war, eine Frage gesetzlich zu regeln, die eigentlich jedem Demokraten einleuchtet und bei uns in Hamburg angesichts der geplanten Demonstration von Rechtsradikalen am 2. Juni gerade mal wieder aktuell war: wie man derartige Aufmärsche gerichtsfest und unter Wahrung des verfassungsmäßig garantierten Versammlungsrechts verbieten könnte. Zustande kam damals eine sehr kleine, vorsichtige Lösung.

Und so schwer es auch zu verstehen ist: Manchmal werden völlig artfremde Vorhaben als Verhandlungsware angeboten, damit jede Seite ihr Gesicht wahren kann. Aktuelles Beispiel in der schwarz-gelben Koalition: Die CSU brachte als Manövriermasse die Forderung nach einer Pkw-Maut ins Spiel, machte dann aber einen Rückzieher in der Hoffnung, ihr Lieblingsprojekt "Betreuungsgeld" gegen Bedenken bei CDU und FDP durchzupauken.

Aus gutem Grund gibt es zwischen Politikern und Journalisten die Absprache, eine Aussage "unter zwei" oder "unter drei" zu machen. Ersteres bedeutet: Veröffentlichung möglich, aber ohne Namensnennung. Letzteres heißt: Dieser brisante Hinweis ist nur für Ihren Hinterkopf, schreiben oder senden dürfen Sie das keinesfalls! So etwas online zu stellen? Undenkbar. Politiker würden kaum noch im kleinen Kreis Klartext reden - was leider ohnehin selten geschieht - und für Journalisten gäbe es nicht mehr den Anreiz zu Spurensuche und Spekulation. Kurz: Politik wäre nicht mehr spannend. Deshalb: Zum Teufel mit der totalen Transparenz!