Deutschland hat mittlerweile die jüngsten Universitätsabsolventen in Europa. Nun wird beklagt, sie verstünden zu wenig vom Leben

Noch vor gut zehn Jahren wurde die Bildungsdiskussion in Deutschland beherrscht von den viel zu alten Hochschulabsolventen, die erst mit 30 Jahren die Uni verließen und im europäischen Vergleich hinter ihren englischen und französischen Wettbewerbern zurückfielen. Die deutschen Kommilitonen waren, so die gefühlte Lage der Bildungsnation, faule Langzeitstudenten, die sich so lange wie möglich in den akademischen Wärmehallen herumtrieben, um die Zeit zwischen Examen und Vorruhestand zu verkürzen. Die Einführung von Strafgebühren für "Bummelstudenten" war eine der damals umstrittenen politischen Maßnahmen.

Verwundert reibt man sich die Augen, wenn man sich das Lebensalter der heutigen Absolventen ansieht: Mittlerweile wird auf breiter Front beklagt, die deutschen Absolventen seien zu jung. Was ist passiert? Kinder werden heute tendenziell mit knapp sechs eingeschult, während man früher lieber noch ein Kita-Jahr obendrauf gab. Mit G8 geht's dann zum Abi mit 17, dem Regelabschluss zumindest in Hamburg, den mehr als die Hälfte eines Jahrgangs ablegt. Bundeswehr und Zivildienst sind nur noch freiwillig, ohne großen Zulauf. Also an die Uni, wo es dank Bologna-Reform mit dem Bachelor nach drei Jahren den ersten berufsqualifizierenden Abschluss gibt. Lebensalter: um die 20.

Und nun? Wir haben im Wettbewerb nicht nur aufgeholt, sondern uns sogar selbst überholt. Mit deutscher Gründlichkeit haben wir aus den ältesten die jüngsten Absolventen gemacht. Und damit seltsame Nebenwirkungen produziert.

Denn vieles von dem, was im Studium sowohl im Hörsaal als auch nebenbei stattfinden soll, ist dem Beschleunigungswahn zum Opfer gefallen. Das "Studierbarkeitsparadigma" hat zur Modularisierung und zum häppchenweisen Abprüfen von Leistungen geführt - und damit das Verstehen verdrängt. Die Idee europäischer Vergleichbarkeit hat zur Fragmentarisierung von Studiengängen geführt - und damit zu einem Rückgang von Studienortwechseln, auch ins Ausland. Die Verkürzung und Verschulung hat zu einem Lernen nach Stundenplan geführt - und damit die Kneipendiskussionen ausgetrocknet. Die Fokussierung der Fächer hat zu einer Verengung der Inhalte geführt - und damit der Idee eines Studium generale, dem Blick über den eigenen Tellerrand den Garaus gemacht.

Was auf der Strecke bleibt, sind die beiden Hauptpfeiler eines akademischen Studiums: die Suche nach Erkenntnis als Wert an sich, den man nur schätzen kann, wenn er mit der Möglichkeit des Scheiterns, mit "trial and error", verbunden ist. Und die Heranbildung einer eigenständigen Persönlichkeit, bei der das Erlernen und Erforschen der Studieninhalte nur Mittel zum Zweck ist.

Fragt man Personalverantwortliche in Unternehmen, legen sie bei Bewerbern genau darauf besonderen Wert: Persönlichkeit, abstrakte Problemlösungskompetenz, interkulturelle Erfahrungen, Aufgeschlossenheit, Neugier, Führungsfähigkeiten. Fachwissen spielt meist eine untergeordnete Rolle, es überholt sich ja ohnehin viel zu schnell.

Vielleicht ist es Zeit für eine neue Bildungsdiskussion, die sich nicht am Lebensalter festmacht, sondern an den Inhalten. Die Vorreiter gibt es bereits: Die Zeppelin University in Friedrichshafen hat alle Bachelor-Studiengänge von drei auf vier Jahre verlängert und freie Zeiten fürs Forschen und Verstehen eingeführt, mit der Folge steigender Bewerberzahlen. Die Leuphana in Lüneburg hat ein College-Semester eingeführt, bei dem alle Erstsemester in allen Fächern eine übergreifende Fragestellung "studieren", mit Projektarbeiten, Workshops und Präsentationen. Und die Bucerius Law School bietet mit "Jura Plus" ein Konzept, das neben Jura auf all die Dinge Wert legt, die fürs Leben wirklich wichtig sind: Auslandsstudium, Wirtschaftskenntnisse, Studium generale, Persönlichkeitsentwicklung und Berufsorientierung.