Bürger- und Volksentscheide in Hamburg schaffen oft neue Probleme, statt sie zu lösen. Sie drohen die Parteien auszuhöhlen

Die Idee klingt brillant. Die Demokratie in Deutschland, die stets sich vor allem auf Parteien und Parlamente gründete, soll durch Volksabstimmungen bereichert werden. Ob auf Bezirks-, Landes- oder Bundesebene soll der mündige Bürger entscheiden. Soll das kleine Einkaufszentrum in Eidelstedt erweitert oder der gigantische Euro-Rettungsschirm aufgespannt werden? Die Verfechter der direkten Demokratie wollen die Macht vom Gipfel an die Basis holen, aus den Hinterzimmern in das Licht der Öffentlichkeit rücken.

Eindrucksvoll lässt sich das in der Hansestadt besichtigen. Hier haben engagierte Bürger besonders vehement und erfolgreich für "Mehr Demokratie" gekämpft. Das Ergebnis sind weitreichende Entscheidungsrechte auf Bezirks- und Landesebene.

Es darf aber bezweifelt werden, dass dieses Mehr an Demokratie der Stadt auch einen Mehrwert gebracht hat. Ganz im Gegenteil. Dieser Tage trägt es eher zur Gagaisierung der Gesellschaft bei. Drei Hamburger wollen, wie die "Hamburger Morgenpost" berichtet, per Volksentscheid einen weiteren Feiertag für die Hansestadt erreichen. Er soll "Tag der Freiheit" heißen, hat aber mit politischer Freiheit in etwa so viel zu tun wie der Sommer 2012 mit Sonnenschein - der "Tag der Freiheit" soll einfach arbeitsfrei sein. Gut möglich, dass die sinnfreie Idee die Hürden Volksinitiative und Volksbegehren locker nimmt - vielleicht sollte man gleich noch einen "Tag des Freibiers" fordern. Man könnte diese als Politgroteske abtun, wenn nicht die Reaktion der Parteien so ernst wäre. Zwar will sich keiner die Gaga-Idee zu eigen machen, klare Kante dagegen aber zeigt auch keiner. Die CDU will sich nicht äußern, die SPD beobachtet erst einmal die Meinungsbildung.

Diese Reaktion zeigt eine Gefahr der direkten Demokratie. Sie erschüttert Führung und schwächt die repräsentative Demokratie und die Parteien, mit der die Republik in den vergangenen Jahrzehnten gut gefahren ist. Und sie lösen Fehlentscheidungen aus, weil die Politik sich von Volksbegehren treiben lässt. Ein Beispiel ist der Teilrückkauf der Energienetze. Obwohl er weder die Energiewende beschleunigt noch finanziell sonderlich attraktiv ist, hat die Bürgerschaft ihn verabschiedet. Ein wichtiger Grund für das Großinvestment dürfte der nahende Volksentscheid sein. Am Tag der Bundestagswahl werden die Hamburger über den vollständigen Rückkauf der Netze entscheiden - immerhin 116 197 Hamburger hatten im Volksbegehren dafür unterschrieben. Die Minderheitsbeteiligung dürfte der Versuch des Senats sein, der Initiative den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wie sehr die Parteien die Macht des Plebiszits fürchten, zeigt auch das jüngst mit den Stimmen aller Parteien (!) verabschiedete Transparenzgesetz. Ursprünglich hatte ein Bündnis für den Sommer ein Volksbegehren mit diesem Ziel starten wollen. Weil die Parteien rasch auf den Zug aufsprangen, wurde es hinfällig.

Geradezu kontraproduktiv wirkt sich die direkte Demokratie auf den Wohnungsbau aus. Gleich eine Vielzahl von Bürgerentscheiden verhindert oder verzögert in Hamburg Neubauprojekte. Den Senat bringt das in eine schwierige Lage - er kann zwar den Bürgerwillen überstimmen, indem er das Verfahren an sich zieht (evoziert), fördert damit aber die Parteienverdrossenheit.

Genau diese ist der Quell für den Erfolg weiterer Volksbegehren. Schon jetzt profitieren die Unterschriftensammler davon, dass sie sich als "David" im Kampf gegen den Goliath aus Politik und Verwaltung inszenieren. Das bringt Sympathiestimmen. Dabei sind viele Bürgerbegehren gerade auf Bezirksebene Eigeninteressen geschuldet. Die Betroffenen profitieren davon, dass viele Nichtbetroffene das Thema nur oberflächlich durchschauen oder ganz ignorieren. Der vermeintliche Bürgerwille ist viel zu oft bloßer Betroffenenwille.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Zugang zu den Mitteln der direkten Demokratie eben nur auf dem Papier gleich ist - man benötigt Zeit, Geld und Rhetorik. Hoch gebildete Senioren aus besseren Stadtteilen werden es immer leichter haben als Jugendliche aus sozialen Brennpunkten. Das mag in Parteien zwar ähnlich sein, doch diese sind stärker dem Interessenausgleich aller verpflichtet. Sie müssen das große Ganze in der Metropole im Blick haben.

Der wachsende Einfluss der direkten Demokratie in Hamburg droht langfristig die Parteien auszuhöhlen. Politisches Engagement verlagert sich in Ein-Punkt-Initiativen; zugleich werden Parteien unattraktiv, weil die Macht der Parlamente beschnitten wird.

Olaf Scholz hat den Satz geprägt. "Wer Führung bestellt, bekommt sie auch." Nur, wer führt dann?

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne "Hamburger KRITiken" jeden Montag Hamburg und die Welt