Neustadt. "Spinne, Papa, Spinne, Spinne!" Voller Panik schrie der Junge immer wieder in sein Handy. Es war das Codewort, mit dem er und sein Vater sich gegen Gefahr zu wappnen versuchten. Gefahr, die von der eigenen Mutter des Jungen drohen könnte, wieder einmal. Dass sie aggressiv und sogar gewalttätig werden könnte, wie es schon einmal geschehen war. Denn wenn sie tüchtig dem Alkohol zugesprochen hat, hat diese Frau sich offenbar nicht mehr im Griff - und wird zu einer unkontrollierten, rasenden Furie. Und es war viel Hochprozentiges, das die 43-Jährige damals konsumiert hatte, in fataler, zerstörerischer Regelmäßigkeit.

Sitzt hier vor Gericht jetzt eine andere Frau? Einsichtig und reumütig, jemand, der sich bemüht, die Schatten der Vergangenheit abzuschütteln? Martina M. (Name geändert) ist sichtlich daran gelegen, einen soliden, gefassten und verlässlichen Eindruck zu machen. Die Kleidung konservativ und zugleich adrett, dazu sorgfältig geschminkt und manikürt, sitzt die schwarzhaarige Frau da, Gesichtszüge und Gestik lassen nichts Impulsives oder Aggressives erkennen. Das einstudierte Verhalten einer nach wie vor instabilen Frau? Oder hat vielmehr die ernsthafte Sorge vor den Konsequenzen ihrer Gewaltausbrüche die Hamburgerin wirklich und endlich zur Räson gebracht? Denn den Kontakt zu ihrem Sohn hat sie bereits verloren. Und nun droht auch noch der Verlust ihrer Freiheit.

Dagegen kämpft sie jetzt in der Berufungsverhandlung vor dem Landgericht. Sechs Monate Haft hatte das Amtsgericht im vergangenen Augustgegen Martina M. verhängt, weil diese ihren damals 13 Jahre alten Sohn angegriffen und verletzt hatte. Die Strafe könne nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden, hatte der Richter seinerzeit entschieden. Laut Amtsgerichtsurteil hatte Martina M. an einem Abend im Oktober 2010 ihrem Sohn immer heftiger zugesetzt, weil der bei seinem Vater lebt und nicht bei ihr. Auch als er gegen Mitternacht zu Bett ging, ließ sie den Jungen nicht zur Ruhe kommen, und um 3 Uhr nachts schließlich zwang sie ihn, den Vater anzurufen.Bei diesem Telefonat spitzte sich ihre Aggression weiter zu, beide rangelten um das Handy, Martina M. kratzteihren Sohn, der daraufhin mit "Spinne, Spinne" verzweifelt das Codewort rief. In ihrer rasenden Wut versetzte sie dem 13-Jährigen drei Faustschläge gegen den Kopf und versperrte die Wohnung, sodass die Feuerwehr schließlich über Leitern klettern musste, um in das Gebäude zu dem verstörten und verletzten Jungen zu gelangen.

Vor dem Amtsgericht hatte die Angeklagte den Vorfall noch als Versehen kleinzureden versucht. Sie habe ihren Sohn lediglich an den Armen festgehalten und dabei wohl zufällig gekratzt, hatte sie behauptet. Der Jugendliche musste als Zeuge aussagen, eine extrem belastende Situation für ihn. Jetzt in diesem Prozess bleibt ihm eine solche Tortur indes erspart. Martina M. bestreite die Tat nicht länger, erklärt ihr Verteidiger. "Es liegt ihr sehr am Herzen, dass ihr Sohn nicht mehr gehört werden muss." Es gehe ihr einzig um die Höhe der Strafe, nicht mehr um die Frage, ob eine verhängt werden muss.

Es ist dies bei Weitem nicht die erste Tat, die sich die 43-Jährige hat zuschulden kommen lassen. Einmal wurde sie bereits wegen Trunkenheit im Straßenverkehr verurteilt, vor allem jedoch zweimal wegen Körperverletzung. Eine der Attacken hatte sich ebenfalls gegen ihren Sohn gerichtet, den sie in blinder Wut mit einer Pet-Flasche und einer Kleiderbürste geschlagen und ihm eine Gabel in den Arm gestochen hatte. Zu den Verletzungen des Jugendlichen kam die bittere Angst, ob die Frau zu weiteren Gewalttaten fähig ist - und der Versuch, mit dem Codewort "Spinne" ein Sicherheitsnetz zu spannen.

Derlei Vorsichtsmaßnahmen sind aus Sicht von Martina M. nicht mehr nötig. Sie habe mittlerweile "aufgegeben, den Kontakt zum Sohn erzwingen zu wollen", erzählt die Angeklagte mit matter Stimme. "Es ist Frieden eingekehrt. Aber ich leide sehr unter dem Verlust meines Kindes." Darüber hinaus bemühe sie sich konsequent, vom Alkohol loszukommen, trinke seit einiger Zeit gar nichts mehr. Ein anderer Vorfall habe bei Martina M. einen "heilsamen Schock" ausgelöst, ergänzt ihr Verteidiger. Nachdem sie eines Abends vor Monaten extrem getrunken und in ihrer Wohnung wohl randaliert habe und im Suff von der Polizei nackt durchs Treppenhaus zum Peterwagen habe geschafft werden müssen, "war ihr das extrem peinlich", sagt der Anwalt. "Es gibt für sie nur noch eine Grenze, und das ist die 0,0-Promille-Grenze."

Das Gericht erkennt die Bemühungen an. Die Angeklagte habe "eine deutliche Entwicklung durchgemacht" und sei "zur Besinnung gekommen".

Die Strafe wird von sechs Monaten Haft ohne Bewährung auf eine Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu zehnEuro abgemildert. Mit ihrer Abkehr vom Alkohol habe Martina M. "eine echte Chance, sich aus dem Teufelskreis herauszuheben".