Der Streit zwischen Erneuerern und Traditionalisten beherrscht Russlands Politik.

Enrichissez-vous - Bereichert euch!, rief der französische Minister François Guizot seinen Landsleuten während der Herrschaft des Bürgerkönigs Louis Philippes nach der Julirevolution von 1830 zu. Es könnte auch das Motto der Jelzin-Jahre in Russland gewesen sein, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Scheitern des Kommunismus eine neue Gesellschaft und eine funktionierende Wirtschaft aufgebaut werden mussten.

Und der Ausruf ist nicht einmal so zynisch, wie er auf den ersten Blick erscheint. Denn ohne ein wohlhabendes Bürgertum, das gesellschaftliche Beteiligung und Bildung als Ideale verfolgt, das auch dafür sorgt, dass der allgemeine Wohlstand sich hebt, kann schwerlich eine demokratische Gesellschaft entstehen. Die Privatisierung der nationalen Reichtümer Russlands ist allerdings auf eine ebenso rasante wie brutale Weise vor sich gegangen. Angesichts mangelnder Kontrolle und ungezügelter Gier drohte das ganze Unterfangen im Chaos zu enden, hätte nicht seit 1999 Wladimir Putin die Zügel angezogen. In dem zur Anarchie neigenden Riesenreich zog so etwas wie Ordnung ein, wurden Gehälter pünktlich gezahlt, mehrte sich der Wohlstand zumindest in den städtischen Zentren. Es war nicht immer alles schlecht, was in der Putin-Medwedew-Ära geschah - es muss vor allem am russischen Maßstab gemessen werden, an den Verhältnissen eines Landes, das nach zaristischer Autokratie, 70 Jahren Sowjet-Diktatur, Zerfall und Verlust des Weltmacht-Status seinen Weg finden muss.

Aber jede Übergangsphase hat ihr Ende. In wenigen Wochen wird sich entscheiden, ob in Moskau das Experiment Demokratisierung vorläufig abgebrochen wird und sich das Tandem Putin/Medwedew auf unabsehbare Zeit im Kreml einrichtet. Dann wird aus der einst durchaus stabilisierenden "gelenkten Demokratie" endgültig ein diktatorisches System, charakterisiert durch die Mittel und Methoden, die Putin einst beim sowjetischen Geheimdienst KGB erlernt und bis heute verinnerlicht hat.

Oder die Kräfte einer echten Demokratisierung werden gewinnen. Wobei die Parallelen zu den Ereignissen im Herbst 1989 in Mittel- und Osteuropa nicht zu übersehen sind. Auch in der DDR begann das Ende des SED-Regimes mit Wahlfälschungen. Auch von Leipzig über Prag bis Bukarest demonstrierten Zehntausende Bürger mit überaus kreativen Parolen und Plakaten die Herrschenden aus ihren Amtssesseln. Und mittlerweile gibt es auch in Russland Persönlichkeiten wie Ex-Finanzminister Kudrin, die eine funktionierende Alternative zum Putin-System bieten könnten.

Es ist im Grunde die Neuauflage des alten russischen Wankens zwischen eigener Tradition und Hinwendung zum Westen; zwischen einer Politik der - im günstigsten Fall - wohlwollenden harten Hand oder einer gesellschaftlichen Öffnung mit all ihren Unwägbarkeiten. Neu ist, dass das bisher mit ausgesprochen friedlichen Mitteln geschieht. Der Ausgang ist aber auch heute durchaus offen. Denn auch wenn die Putin-Partei deutlich an Zustimmung verloren hat, vermutlich noch viel mehr als die 25 Prozent, die das gefälschte Ergebnis der Duma-Wahl ausweist, ist die Zahl jener, die eine autoritäre Herrschaft den Mühen und Risiken einer offenen Gesellschaft vorziehen, nicht zu unterschätzen. Und die allwöchentlichen Kundgebungen in Moskau, Petersburg und anderen Städten sind eindrucksvoll. Ob die Protestler die Mehrheit der Bevölkerung repräsentieren, ist aber ungewiss. Aufschluss darüber könnten wirklich faire Wahlen geben. So weit wollen es die Herrschenden im Kreml noch nicht kommen lassen. Auf Dauer verhindern könnten sie es aber nur mit Gewalt.