Die Unicef-Studie bescheinigt der Stadt ein gutes Lebensgefühl. Das reicht aber nicht

In der Medizin gehört der ganzheitliche Ansatz längst zum Programm, in der Betrachtung der Situation von Kindern - und damit der von Familien - in Deutschland ist dies keineswegs selbstverständlich. Schon deshalb ist die aktuelle Studie der Berliner Humboldt-Universität im Auftrag des Kinderhilfswerks Unicef bemerkenswert. Bildung und Gesundheit, materielles Wohlbefinden, Beziehungen und persönliches Erleben: Für das nationale Ranking des Kinderglücks wurden verschiedene Aspekte herangezogen und ihre Schnittmenge bewertet.

Dass dabei Hamburg auf Platz fünf landet, während die Stadtstaaten Berlin und Bremen am Ende der Rangliste stehen, liegt vor allem am guten Abschneiden der norddeutschen Metropole in zwei Kategorien: den festen Beziehungen zu Gleichaltrigen und Familienmitgliedern und dem guten subjektiven Wohlbefinden. Anders ausgedrückt: An Alster und Elbe haben sicherlich viele Kinder manche Probleme, doch sie sagen vor allem - hier bin ich zu Hause.

Zu Hause zu sein - das ist ein Gefühl, das sich nicht kaufen lässt, und ein hohes Gut. Nur wer selbst ein richtiges Zuhause erlebt, kann auch später neue Wurzeln schlagen. Dass Kinder Zugang zu Bildung und gute gesundheitliche Versorgung bekommen, sind unerlässliche Größen für ihre Entwicklung. Doch glaubt man der Unicef-Bilanz, ist es offenbar das besondere Lebensgefühl in Hamburg, das sich positiv auswirkt und überträgt - selbst auf Kinder, deren Eltern arbeitslos sind. Strukturelle Defizite und auch zahlenmäßig belegbare Kinderarmut gibt es in Hamburg ähnlich wie in Berlin oder Bremen, doch das subjektive Wohlbefinden reicht an Spree und Weser nicht weit.

Und auch in anderen Erkenntnissen der Kinderglück-Bilanz steckt Überraschendes. Zum Beispiel, dass die Berufstätigkeit von Eltern nicht unbedingt wegen des Geldes eine entscheidende Rolle für den Nachwuchs spielt, sondern weil Jungen und Mädchen dabei vorgelebt wird, wie wichtig es ist, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen und Zufriedenheit durch Erfolge zu erlangen. Vielleicht ist das die Erklärung dafür, warum in der Stimme meines elfjährigen Sohnes Stolz mitschwingt, wenn er besänftigend zu mir sagt: "Mama, geh ruhig arbeiten ..."

Dass heute selbstverständlich die Berufstätigkeit von Vätern und Müttern lobend für die Entwicklung der nächsten Generation erwähnt wird, zeigt in angenehmer Weise die Fortschritte in der Diskussion um das "richtige" Familienmodell. Das kann mehr Gelassenheit in die Debatte bringen, wie viel oder wenig Berufstätigkeit der Mutter gut für den Nachwuchs ist. Kinderglück im Jahr 2011 heißt in erster Linie: Die Qualität und die Intensität der familiären Bindungen und des Umfeldes sind relevant. Oder, wie es Goethe formulierte: Es ist bloß ein Dünkel der Eltern, wenn sie sich einbilden, dass ihr Dasein für die Kinder so nötig sei.

Bürgermeister Olaf Scholz, der Hamburg zur kinder- und familienfreundlichsten Stadt Deutschlands machen möchte, kann die gute Platzierung Hamburgs im Unicef-Ranking als Etappe auf seinem Weg zu seinem "neuen Selbstverständnis als große Stadt" sehen. Mit der Rücknahme der Kitagebührenerhöhung und dem Schwerpunkt Wohnungsbau sind Eckpfeiler in der Familienpolitik des Senats gesetzt worden. Die Schwächen, die dem Hamburger Bildungssystem durch PISA bescheinigt wurden (und die ebenfalls in das Ranking mit einflossen), bleiben jedoch eine Herkulesaufgabe. Und Arbeitsplätze sind mindestens genauso wichtig, um die Situation Hamburger Familien weiter zu verbessern.

Nur wenn der Senat die drohende soziale Spaltung in einer Stadt verhindert, in der jedes fünfte Kind Eltern ohne Arbeit hat, kann auch die nächste Generation noch ihr Glück in Hamburg suchen - und finden.

Die Autorin ist stellvertretende Leiterin des Lokalressorts beim Abendblatt