Eine Bildbetrachtung von Kai-Hinrich Renner

Wann immer wir Menschen uns zu sehr in Bilder vertiefen, führt dies zu Missverständnissen. Seit der Antike bekannt ist der Fall des Narziss, des Sohnes des Flussgottes Kephissos und der Wassernymphe Leiriope, der sich in sein eigenes Spiegelbild verliebte. Schenkt man dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan Glauben, ist sogar unsere Selbstwahrnehmung nichts als ein einziges Missverständnis: In seinem Aufsatz "Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion" stellt er die Theorie auf, dass wir unseres Ichs bewusst werden, sobald wir als Kleinkinder erstmals das eigene Spiegelbild sehen. Da es aber nur ein Bild ist, mit dem wir uns da identifizieren, spricht Lacan ausdrücklich von einer "Verkennungsfunktion".

Unnötig verkompliziert wurde die problematische Beziehung zwischen Mensch und Bild durch die Erfindung des Fernsehens. Missverständnisse waren anfangs an der Tagesordnung. Die Anekdote von der Großmutter, die sich zu Beginn der 60er-Jahre jeden Abend fein machte, weil Punkt 20 Uhr "Tagesschau"-Sprecher Karl-Heinz Köpcke aus dem Fernsehgerät in ihre Wohnstube schaute, wurde lange Zeit in medienwissenschaftlichen Seminaren nicht ohne Schmunzeln kolportiert. Sind wir heute aufgeklärter? Von wegen! Eine aktuelle Studie belegt, dass die Hälfte aller Sechs- bis 18-Jährigen inszenierte Dokus wie "Betrugsfälle" oder "Die Schulermittler", die bei RTL im Nachmittagsprogramm laufen, für das wahre Leben halten.

Liebe Kinder, diese in Branchenkreisen Scripted Reality genannten Formate sind nichts als Lug und Trug. Generell gilt: Bilder sind Bilder, und das wahre Leben ist das wahre Leben. Wenn man da etwas durcheinanderbringt, kann das böse enden. Das musste in der Antike bereits Narziss erfahren: Er wollte sich mit dem geliebten eigenen Spiegelbild, das er in einem See sah, vereinigen und ertrank dabei jämmerlich.