Künstler begeistern mit weihnachtlichen Geschichten und festlichen Liedern das Publikum. Die Veranstaltung des Abendblatt-Vereins “Kinder helfen Kindern“ war ausverkauft

Neustadt. Plötzlich hält es das kleine Mädchen mit dem blonden Haar nicht mehr auf dem Schoß der Mutter - zu spannend ist das Geschehen im Altarraum. Mit geröteten Wangen pirscht sich die Kleine Schritt um Schritt durchs Kirchenschiff. Die junge Dame, höchstens vier Jahre alt, beweist ganz schön Mumm. Schließlich hat sie das Beede-Gestühl passiert und riskiert einen Blick um die Ecke Richtung Tannenbaum und Krippe. Ihre Augen werden immer größer.

Den anderen Kindern, aber auch all den Erwachsenen im voll besetzten Gotteshaus ergeht es nicht anders. Denn die 38 Mädchen des Cantus-Chors aus Lettland frohlocken: "Lasst uns froh und munter sein!" Die roten Zipfelmützen wackeln im Takt. Es ist ein Bild für Götter.

Kurz zuvor haben die sieben Lucias, gleichfalls aus Lettland, mit ihren himmlischen Stimmen das "Wunder von Bethlehem" gepriesen. Ihre Lichterkönigin trägt beim Einzug einen grünen Kranz und sieben brennende Kerzen auf dem Kopf. Würdevoll, ja majestätisch wirkt die Frau. Kein Wunder, dass die kleine Deern mit dem blonden Haar fasziniert ist und dem besonderen Treiben ganz nahe sein möchte.

Mal festlich, mal fröhlich, teils besinnlich, teils schmissig, diese Melange formt die Märchen im Michel seit nunmehr 20 Jahren zu einer Institution, die im Advent Weihnachtsstimmung beschert. Wie immer waren die 2150 Karten für das Ereignis schon Wochen vorher vergriffen. Und wie immer kehrt in der Hauptkirche St. Michaelis ein wundersam festliches Gefühl ein, das Groß und Klein verzaubert.

Traditionell tragen dazu vier ehrenamtlich wirkende Profis von der Bühne maßgeblich bei: Isabella Vértes-Schütter, Eberhard Möbius, der von Anfang an dabei ist, Christian Quadflieg und Peter Striebeck begeistern die Gemeinde mit ihren Geschichten - heiter, nachdenklich, grundsätzlich großartig vorgetragen.

Mucksmäuschenstill wird es im Michel, als Isabella Vértes-Schütter an das Stehpult vor dem ausschließlich mit Kerzen und Lametta geschmückten Christbaum tritt. Durch ihre Vortragskunst wird das Märchen vom selbstsüchtigen Riesen, der anfangs alle Kinder aus seinem Garten vertreibt, dann jedoch geläutert ist und sogar das Jesuskind trifft, zu einem kleinen Krimi, der nachdenken lässt. Eberhard Möbius präsentiert in seiner unnachahmlichen Art Astrid Lindgrens 1933 verfasste Schilderung von Johans Abenteuer am Heiligen Abend.

Christian Quadflieg gibt Selma Lagerlöfs Flucht nach Ägypten zum Besten, und Peter Striebeck erzählt, wie der kleine Pelle kurz vor dem Fest aus dem Elternhaus ausziehen will, weil er sich ungerecht behandelt fühlt. Natürlich ist am Ende auf rührende Weise alles wieder gut. Glücklich liegen sich Eltern und Kind in den Armen. Auffällig viele Menschen im Michel reiben sich die Augen. Muss die trockene Luft sein ...

Gleich zu Beginn dieses bewegenden Abends hat Hauptpastor Alexander Röder, dessen schwungvolle Moderation erneut hervorragend ankommt, den Stellenwert der Märchen in seiner Kirche als Benefizveranstaltung hervorgehoben. Diesmal kommt der Erlös der Hilfsaktion "Paulinchen" zugute, die sich um brandverletzte Kinder kümmert.

Unter dem Strich brachte die vom Abendblatt-Verein "Kinder helfen Kindern" organisierte Veranstaltungsreihe seit der Premiere 1991 mehr als 250 000 Euro für jene kleinen Menschen ein, die weniger als andere an der Sonnenseite stehen. Somit hat an diesem Abend in St. Michaelis jeder das gute Gefühl, parallel zu helfen und sich selbst zweieinhalb ereignisreiche Stunden zu bescheren. Denn bekanntlich kehrt die Freude, die wir geben, ins eigene Herz zurück.

Hauptpastor Röder, der sich mit "Oma Knackbusch" selbst als temperamentvoller Märchenerzähler betätigt, sorgt inmitten des Ereignisses für eine Überraschung. Derweil Cantus-Mädchenchor und die sieben Lucias im Kirchenschiff Spalier stehen, überreicht er dem Abendblatt-Chefredakteur Lars Haider einen kunstvoll gewebten Josta-Gürtel aus Lettland. "Dona nobis pacem", steht darauf. "Gib uns Frieden."

Außerdem ist gestickt: "20 Jahre Märchen im Michel". "Dieses Band soll Hoffnung ins Dunkel der Zeit bringen", sagt Röder. Aus Haiders Hand wechselt das gute Stück aus dem Baltikum in den Besitz von Renate Schneider. Die Abendblatt-Redakteurin ist Initiatorin und Motor der Märchen im Michel.

Alexander Röder hält das Hohelied auf den guten Geist unserer Zeitung: "Für eine solche wunderbare Veranstaltung braucht man neben der Idee und viel Durchsetzungsvermögen vor allem ein großes Herz." Intensiver Applaus hallt durch den Michel. Jedem ist klar, dass hier eine besondere Persönlichkeit für ihr Schaffen geehrt wird. Dass es ihre letzten Michelmärchen sind, weiß zu diesem Zeitpunkt kaum jemand (siehe Text rechts).

Weiter geht's im Festtagsprogramm. Peter Striebeck gibt mit Betonung preis, dass ein Kind Weihnachtskummer hat. Weil es von der Liebe seiner Eltern beinahe erdrückt wird und gar nicht weiß, wie er es den beiden recht machen soll.

Die Stille in St. Michaelis weicht unmittelbar darauf ausgelassener Stimmung. Voller Humor und Lebenslust präsentiert Christian Quadflieg die Mär von einem wahrlich erstaunlichen, alten Christbaumständer. Mit viel Mühe in Schwung gesetzt, erweist sich das Gerät als Karussell, das sich immer schneller dreht und Chaos in die gute Weihnachtsstube zaubert. Die anfangs glückselige Großmutter ist letztlich doch froh, dass ihr verstorbener Ehemann dieses Spektakel nicht miterlebt hat. Diesmal sind allerorten Freudentränen zu sehen.

Doch kaum hat sich das laute Gelächter im Michel gelegt, kehrt wieder Ruhe ein. "Stille Nacht, heilige Nacht", singen Cantus-Mädchen und Lucias - in ihrer lettischen Muttersprache sowie auf Deutsch. Das kleine, mutige Mädchen mit dem blonden Haar hat jetzt inmitten des Kirchenschiffs Position bezogen. Glück und Begeisterung sind der Kleinen anzusehen.

Sie ist nicht die Einzige an einem Abend, den es so nur einmal gibt.