Dieses Bild nutzt die Regierungskoalition gern. Dabei ist die Floskel meist ein Indiz, dass hinter den Kulissen die Fetzen fliegen

Wenn es schlecht läuft und Ratlosigkeit um sich greift, werden gern die alten Werte von Gemeinsamkeit und Zusammenhalt beschworen. In pleitebedrohten Firmen oder abstiegsbedrohten Fußballvereinen heißt es dann oft: Wir sind doch eine Familie! Auch Politiker greifen auf dieses Ideal zurück, wenn drinnen und draußen die Fetzen fliegen. Folglich bekamen in diesem Jahr vor allem die Parteimitglieder der schwarz-gelben Koalition immer wieder zu hören, dass sie eine Familie sind und liebe- und verständnisvoll miteinander umgehen sollen. SPD und Grüne, denen es zurzeit politisch gut geht, können auf die Floskel verzichten.

In der Politik geht es am Ende immer um Mehrheiten und Macht, die Familienbeschwörung ist meist nur ein taktischer Trick. So etwa, als Fraktionschef Rainer Brüderle auf den FDP-Regionalkonferenzen kürzlich in die Säle rief: "Wir sind eine liberale Familie!" Das war ein Ruf nach Schonung, ja, Mitleid für die erfolglose Führung - ausgerechnet in einer Partei, die sich sonst eher als Zusammenschluss freiheitsliebender Individualisten präsentiert. Als der populäre CDU-Abgeordnete Wolfgang Bosbach mit einigen anderen Abweichlern im Bundestag gegen den Euro-Rettungsschirm stimmte und damit Kanzlerin Merkel, seine Parteivorsitzende, an den Rand des Machtverlusts brachte, da häuften sich die Familienbeschwörungen, um den Schreck zu verarbeiten. "Bitte, bleib in der CDU-Familie", bat Bosbachs Kollege Peter Hintze inständig. Und der Angesprochene stimmte bewegt zu: "Seine Familie verlässt man nicht, wenn es mal Differenzen gibt."

Dabei war Bosbachs Abstimmungsverhalten eigentlich recht unfamiliär. Denn zum Familienideal gehört unbedingte Loyalität, egal wie die Argumente sind. Und es gehört zu diesem Ideal, dass unangenehme Zwischenfälle in der Familie bleiben - und nicht wie die verbalen Ausfälle von Kanzleramtsminister Pofalla gegen Bosbach ("Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen") ausgeplaudert und zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung gemacht werden.

Beim Euro-Rettungsschirm muss die Unionsführung fürchten, dass viele Mitglieder Sympathien für Bosbachs Positionen haben, deshalb versucht sie, ihn familienmäßig zu umarmen. "Man muss die ganze politische Familie zusammenhalten", äußerte sich CSU-Chef Horst Seehofer nach der Abstimmung milde.

Seehofer gilt als besonders raffinierter Machtpolitiker, deshalb führt er den Familienbegriff auch häufig im Munde. Als Anfang des Jahres Verteidigungsminister Guttenberg wegen seiner Doktorarbeit in Bedrängnis geriet, forderte Seehofer unbedingte öffentliche Solidarität für den Parteifreund. Das sei in einer "politischen Familie" eine "Selbstverständlichkeit".

Guttenberg durfte man nicht kritisieren, gegen Merkel durfte man aber stimmen - soweit die Familien-Interpretationen des CSU-Chefs. Nach Guttenbergs anmaßendem Comeback-Interview begrüßte ihn Seehofer gleich wieder mit den Worten: "Er gehört zu unserer politischen Familie." Aber das war wohl schon weniger eine Umarmung als der Versuch, den inzwischen Unwillkommenen zu erdrücken.

Selbst die Linken-Vorsitzende Gesine Lötzsch hat mittlerweile angesichts der Liebesbeziehung Lafontaine/Wagenknecht auf die Formel zurückgegriffen, ihre Partei sei "eine große politische Familie". Daraus spricht eine Mischung aus Hilflosigkeit und politischer Verlogenheit, denn in der Linkspartei kämpft ja nun wirklich jeder gegen jeden.

Alle vermeintlichen Familienfälle - von Bosbach bis Guttenberg - werden am Ende nach politischem Kalkül behandelt und entschieden werden. Als die Nord-CDU ihren Spitzenkandidaten Christian von Boetticher im August gnadenlos absägte (von wegen Familie!), äußerte die ehemalige, ebenfalls einst abgesägte Grünen-Ministerin Andrea Fischer dafür im Hamburger Abendblatt Verständnis. Fischer: "Eine Partei hat das Recht festzulegen, wer politisch noch von Nutzen ist und wer nicht." Klingt ausgesprochen unfamiliär, aber es ist die Wahrheit.

Und dem Wähler kann es nur recht sein, wenn es in der Politik nicht allzu kuschelig zugeht, sondern hart um die Sache und um Personen gestritten wird.