Der norddeutsche Schimpfkalender hat Tradition. Es ist wissenschaftlich bewiesen - wer zetert, ist schmerzunempfindlicher und entlastet die Seele.

Hamburg. Im 19. Jahrhundert wurde in Deutschland individueller geschimpft als heute. Damals konzentrierte man sich verbal vor allem auf die Verunglimpfung der Fehler und Schwächen des jeweiligen Gegenübers. Heute sprechen Linguisten (und Malediktologen) eher von einer "Auswahl an Schimpfwörtern, die unabhängig vom Charakter eines Menschen sind". Dabei müssen sie nicht einmal unbedingt gegen eine Person gerichtet sein. Auch der Nutzen für den Schimpfenden hat sich verändert. So hieß es noch im Jahre 1839 im Deutschen Schimpfwörterbuch: "Lautes Schimpfen erleichtert jedem das Herz, ist gesund, dient dem Ansporn, verschafft dem Schimpfenden mehr Ansehen, schützt gegen Feinde und kann Streit schlichten."

Später fragte sich der britische Psychologe Richard Stephens von der Keele University in Newcastle, warum so viele Frauen im Kreißsaal schreien und/oder fluchen. Er ersann folgendes Experiment: Knapp 70 Freiwillige sollten eine Hand so lange wie möglich in eiskaltes Wasser halten. Mit diesem klassischen Schmerztest kann die individuelle Empfindlichkeit gemessen werden: Je länger die Probanden den langsam steigenden Schmerz aushalten können, desto geringer ist ihre Empfindlichkeit.

Doch dann durften die Testpersonen während eines zweiten Tests schmutzige Schimpfwörter ausstoßen, die zuvor festgelegt worden waren. In einem dritten Kontrolldurchgang waren schließlich nur Begriffe erlaubt, die einen Tisch beschreiben. Wer kräftig fluchen durfte, hielt die Prozedur im Durchschnitt knapp 120 Sekunden lang aus, im Kontrollversuch waren es dagegen nur 75 Sekunden. Das subjektive Schmerzempfinden war beim Fluchen ebenfalls niedriger, und die Herzfrequenz stieg an. "Fluchen versetzt den Körper in einen Alarmzustand. Die Nebennierenrinde schüttet das Stresshormon Cortisol aus, was die Schmerzempfindlichkeit senkt", sagte Richard Stephens. Ähnliches dürfte seiner Meinung nach auch beim Schreien passieren, was zum Beispiel die martialischen Kampfschreie (in allen Kulturen verbreitet) erklären würde - den Tapferen hilft also nicht nur das Glück, sondern vor allem ein herzhafter Fluch ...

Nicht nur mit diesem Experiment wurde wissenschaftlich bewiesen, dass Fluchen und Schimpfen dem psychologischen Allgemeinbefinden, dem Seelenheil guttun. Sie sind sogar als therapeutischer Weg geeignet, um innere Spannungen und Erregungen zu lösen und abzubauen. Anders ausgedrückt: Fluchen und Schimpfen sind für die Gesundheit mindestens so wichtig wie Weinen oder Lachen. Sagen, natürlich, die Psychologen.

Doch die vermutlich verblüffendste Entdeckung auf unserer kurzen Reise in die Welt des Schlechtredens dürfte diejenige sein, dass Schimpfen und Kosen sehr nah beieinanderliegen. Der Berliner Publizist Herbert Pfeiffer bezeichnete dieses Phänomen in seinem Standardwerk, dem "Großen Schimpfwörterbuch" (Eichborn, 1996), als "kosende Schelte". Die erreiche man ganz leicht mit "Verkleinerungsänderungen, wie etwa einem "-chen" ("Scheißer-chen") - und schon verlöre die ursprüngliche Beschimpfung ihren eigentlichen Charakter. Wenn so beim Beschimpfen absichtlich stark untertrieben und der stilistisch niederste Ausdruck gewählt wird, bedeutet dies eine Umkehrung der ironischen Rede oder auch "Lob durch Tadel, statt Tadel durch Lob". So wie bei der "Hassliebe", bei der ja auch positive wie negative Gefühle ineinander übergehen. Psychologen vermuten daher, dass bei derartigen Kosewörtern häufig auch eine "besitzergreifende Aggressivität" mitspielt. Eine Art Kür freilich stellt die selbstbewusste Reaktion auf einen Schimpfnamen dar, der vom Beschimpften in seiner Wertung umgekehrt wird. So, wie es der bekannte Rhetoriker und Schriftsteller Walter Jens bereits im Jahre 1993 in der Wochenzeitung "Die Zeit" vorgemacht hat. "Ja", sagte Jens damals im Interview, "ich bleibe, was ich bin: ein Scheiß-Liberaler!"

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