Blankenese. Eigentlich hätte sie an diesem Tag in der Schule das große "F" und das kleine "f" lernen sollen. Außerdem steht Wissenswertes über den Igel auf dem Stundenplan, verkündet Chantal (Name geändert) eifrig. Doch die Zweitklässlerin hat gleichwohl keine Zeit, an ihrem Unterricht teilzunehmen. Die Achtjährige hat Wichtigeres zu tun. Denn an diesem Vormittag sagt sie vor dem Amtsgericht aus, als Zeugin. Ihr Vater hat sie mitgebracht, es war seine Idee. Denn Chantal hat Dinge beobachtet, meint Thomas K., die seine Aussage als Angeklagter stützen könnten. Das könnte hilfreich sein, für die Wahrheitsfindung, findet er. Und für ihn sowieso.

Das Kind war unmittelbar dabei, als sein Vater wenige Tage vor Ostern mit einem anderen Mann in Streit geriet und er sich deshalb jetzt wegen Körperverletzung vor Gericht verantworten muss. War es so, dass Thomas K. die Auseinandersetzung vom Zaun brach, seinem Widersacher absichtlich einen Tritt gegen den Oberschenkel versetzte und ihn damit verletzte, wie es die Staatsanwaltschaft im Prozess dem 52-Jährigen vorwirft? Oder wollte sich der Angeklagte doch lediglich verteidigen, wie Thomas K. behauptet?

Der Vater von fünf Kindern ist ein sehr temperamentvoller Mann. Aufgeregt, mit ausschweifenden Gesten schildert der drahtige Bartträger seine Sicht der Dinge. Wie er mit Chantal an der einen Hand und einer Einkaufstüte in der anderen einen schmalen Weg entlanggegangen sei und der andere Mann ihn angerempelt habe. "Um ihn abzuwehren, hob ich das Bein hoch, da lief er gegen", erzählt er und springt vom Stuhl auf, um die Szene vorzuspielen. Sein Gegenüber sei dann unglücklich hingefallen und auch noch aus eigener Ungeschicklichkeit einen Abhang runtergerutscht, echauffiert sich der Angeklagte. Der Angriff sei "aus heiterem Himmel erfolgt. Ich renne doch nicht mit meiner Tochter los und suche Streit!"

Diese Vorstellung ist offenbar auch für die kleine Chantal befremdlich. Während ihr Vater und andere Zeugen ausgesagt haben, hat die Achtjährige in einem Nebenraum gewartet und ein Bild gemalt, mit Wolken und einer Wiese und Blumen. Gebannt lauscht die zierliche Achtjährige mit den braunen Haaren jetzt bei ihrem Auftritt als Zeugin, als der Amtsrichter sie behutsam und kindgerecht belehrt, wie wichtig die Rolle eines Zeugen ist und dass sie nur erzählen darf, was wahr ist. Dann folgt einen Moment nichts als Schweigen. Chantal sammelt sich, der kleine Körper angespannt, die Augen groß, ihre ersten Worte kommen zögernd, zaghaft. "Ich war mit Papa beim Einkaufen", erzählt das Mädchen jetzt und blickt immer wieder unsicher und Hilfe suchend zu ihrem neben ihr sitzenden Vater auf. Es ist, als erwarte sie, dass Thomas K. ihr souffliert. Der nickt ihr aufmunternd zu: "Sag einfach, wie es war", fordert er seine Tochter auf. Er habe sie an der Hand gehalten und in der anderen Hand eine Einkaufstüte getragen, schildert Chantal. "Dann ist ein Mann gekommen und hat Papa beschimpft und angerempelt", sagt sie jetzt mit wichtiger Miene. "Papa hat das Bein gaaanz lang gemacht, und da ist der andere rübergefallen."

Geschafft. Die Anspannung scheint von der Achtjährigen abzufallen, erleichtert atmet sie auf, als sie hört, dass ihr Auftritt als Zeugin vorbei ist. Sichtbarer Stolz erhellt ihre Miene, als ihr Vater ihr einen beifälligen Blick zuwirft. Der 52-Jährige kann zufrieden sein. Wunderbar hat die Aussage des Kindes mit seiner Einlassung harmoniert, perfekt geradezu.

Anders die Schilderung des mutmaßlichen Opfers. Unaufgeregt, mit ruhiger Stimme, erzählt Ralf B., wie er dem Angeklagten ausgewichen sei, weil sie "schon mal Stress gehabt" hätten. "Irgendwie wurde ich angerempelt, ein Wort gab das andere, plötzlich versetzte er mir einen Tritt", erinnert sich der 58-Jährige. "Ich soll getreten haben?", fällt der Angeklagte ihm ins Wort. "Du bist doch auf mich zugelaufen!"

Aus Sicht des Staatsanwalts reicht es nach der Beweisaufnahme jedenfalls nicht für eine Verurteilung. Das aufbrausende Temperament spreche eher gegen den Angeklagten, sagt der Ankläger, doch werde Thomas K. von der Aussage seiner Tochter gestützt. Ob Chantal tatsächlich Erlebtes geschildert habe oder womöglich durch Gespräche mit ihrem Vater beeinflusst wurde, "kann ich nicht sagen".

Auch der Amtsrichter erkennt schließlich auf Freispruch. "Es ist so, als hätten wir unterschiedliche Filme geschildert bekommen", fasst er die Zeugenaussagen zusammen. Die Vorstellung, dass die Anklage richtig ist, sei insbesondere wegen des hitzigen Temperaments von Thomas K. und dem eher gemächlichen Gemüt vom Ralf B. "nicht so leicht zu überwinden". Aber letztlich blieben wegen der Zeugenaussagen doch Zweifel, begründet der Richter den Freispruch.

In Zukunft sei es besser, sagt er und richtet diesen Rat an den 52-Jährigen, "Konflikten aus dem Weg zu gehen". "Der Trick besteht darin, sich schmal zu machen und die Schultern einzuziehen." Es ist, als wolle Chantal ihrem Vater vormachen, wie genau das geht: Noch zierlicher wirkt sie, die Schultern schmal, als sie an seiner Hand den Saal verlässt.