Die Politik muss eine Pflegereform noch liefern. Aber auch die Gesellschaft ist gefragt

"Die Würde des Menschen ist unantastbar", heißt es gleich zu Beginn in unserem Grundgesetz. Auch wenn man vorsichtig sein sollte, diesen Satz nicht allzu beliebig zu verwenden, ist die Würde ein wesentlicher Bestandteil jenes Wunsches, der alle Menschen eint, wenn es um ihren Lebensabend geht: "In Würde altern", lautet er, und er ist zu einem Sinnbild geworden. Etwa dafür, so lange wie möglich selbstbestimmt seinen All-tag zu bestreiten. Dafür, so lange wie möglich eigene Entscheidungen treffen zu können und im Falle von Krankheit und Schwäche liebevolle Pflege und verantwortungsvolle Fürsorge zu erhalten.

So viel zu den Wunschvorstellungen. In der Realität steht die Pflege im Moment jedoch vor gewaltigen Herausforderungen: Mit der alternden Gesellschaft werden auch immer mehr Menschen in Deutschland auf Hilfe angewiesen sein. 2,4 Millionen sind bereits heute pflegebedürftig, schon in wenigen Jahrzehnten wird ihre Zahl auf vier Millionen steigen. Rund 1,4 Millionen Bundesbürger sind zudem an Demenz erkrankt. Auch hier, so schätzen Experten, wird sich die Zahl in 50 Jahren verdoppelt haben.

Außerdem gibt es immer weniger Erwerbstätige und damit weniger Beitragszahler für die umlagefinanzierte Pflegeversicherung. Auch die Zahl potenzieller Pflegekräfte sinkt. In einer flexibler werdenden Arbeitswelt wird es zudem immer seltener möglich sein, dass sich die Kinder selbst um ihre hilfsbedürftigen Eltern kümmern können. Man lebt dort, wo es Arbeit gibt - und nicht mehr zwangsläufig in seinem Heimatort nahe dem Elternhaus. Eine Pflegereform ist ein gesellschaftspolitisches Großprojekt und eine dringend zu erledigende Mammutaufgabe, an der schon einige Regierungen gescheitert sind.

Auch die aktuelle Bundesregierung wird sich diesen Vorwurf gefallen lassen müssen. Union und FDP hatten sich viel vorgenommen bei ihren Koalitionsverhandlungen im Herbst 2009. Der Begriff der Pflegebedürftigkeit sollte neu definiert, das strapazierte Umlageverfahren durch eine Pflicht zur Kapitaldeckung ergänzt werden. Beides ist bislang nicht geschehen.

Nach zwei Jahren Streit zwischen den Lagern gibt es jetzt nur einen Minimalkompromiss. Die Eckpunkte, die Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) gestern vorgestellt hat, sind vor allem eine Ansammlung wenig konkreter Absichtserklärungen. Mit einer Erhöhung des Beitragssatzes um 0,1 Prozent können neue Leistungen mit einem Volumen von 1,1 Milliarden Euro bereitgestellt werden. Angesichts des riesigen Reformbedarfs ist das jedoch nur der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Es bleibt vorerst bei einem Reförmchen.

So wütend es machen kann, dass nun noch mehr Zeit verspielt wird, so sehr ist nicht nur die Politik, sondern auch die Gesellschaft gefragt. Pflege findet vor allem im Verborgenen statt. In Heimen und Krankenhäusern oder innerhalb der eigenen vier Wände, in denen sich meist die Töchter oder Fachkräfte kümmern. Die Gesellschaft, so scheint es, will nicht viel zu tun haben mit Alter und Gebrechlichkeit.

Es wäre jedoch wichtig, dass wir uns den Tatsachen stellen und das Thema als so selbstverständlich erachten, wie es ist. Dazu gehört vor allem auch, dass die Pflegenden selbst mehr Anerkennung erfahren. Schon heute arbeiten sie oft am Limit, sind schlecht bezahlt, und das Ansehen des Berufsstands rangiert trotz seiner absoluten Notwendigkeit eher in einem unteren Bereich. Für sie muss sich Würde in erster Linie auf dem Gehaltsscheck widerspiegeln. Nur das schafft Anreize für junge Menschen, künftig diesen Beruf zu ergreifen.

Die Bundesregierung muss sich beeilen. Die Zeit drängt. Über kurz oder lang werden wir jedoch auch nicht um einen Mentalitätswandel herumkommen, wenn "in Würde altern" unser Ziel sein soll.