Der Krieg beginnt; Helmut wird aus der Hitlerjugend ausgeschlossen. Das junge Paar gründet eine Familie und erlebt einen Schicksalsschlag.

Hamburg. Mit dem gefälschten Ariernachweis steht Helmut Schmidt das Tor zur Hitlerjugend offen. Dabei ist dieses Papier, Ironie des Schicksals, jetzt gar nicht mehr nötig. Denn sein Ruderverein wird kurzerhand komplett in die Marine-Hitlerjugend aufgenommen. So wird aus Helmut, dem Kapitän der Ruderriege, automatisch der Kameradschaftsführer.

Auch während des Konfirmationsunterrichts in der Kirche St. Gertrud am Immenhof ist von Opposition noch nichts zu spüren. Es wäre lebensgefährlich gewesen. Helmut nimmt 1936, also im Jahr der Olympischen Sommerspiele in Berlin, am sogenannten Hitlermarsch zum Parteitag der NSDAP in Nürnberg teil.

Das Ganze ist ihm zwar instinktiv nicht geheuer, doch spielt er das braune Spiel mit. Auch in seiner Heimatstadt Hamburg. Im Stadtteil Eimsbüttel ist er als Scharführer aktiv, organisiert Kameradschaftsabende und Sportturniere.

Trotz aller politischer Disziplin zu einer gewissen Renitenz neigend, geht er dennoch einmal ein hohes Risiko ein: In einem Versammlungssaal der Hitlerjugend tüncht er in roten Lettern ein normalerweise völlig unverfängliches Zitat mit dem Wunsch nach Freiheit an die Wand. Helmut wird aus der Hitlerjugend ausgeschlossen.

Er hat immenses Glück; denn es bleibt die einzige Konsequenz. Nicht nur diese Strafe trägt zu seiner wachsenden Nachdenklichkeit über den Nationalsozialismus bei. Die in allen möglichen Schaufenstern aushängenden Ausgaben des "Stürmers" mit den übelsten Hetzparolen sind partout nicht nach dem Geschmack des kulturell gebildeten Jugendlichen. Und als dann noch die Bilder der von ihm verehrten Expressionisten als entartete Kunst geächtet werden, bricht er mit dem Nazi-Regime. Natürlich nur innerlich.

Seine Zweifel und Gedanken hält Helmut Schmidt in verklausulierten Notizen fest, die 1943 den Bombenangriffen auf Hamburg zum Opfer fallen sollen. So gut wie möglich wird er sie später in der Kriegsgefangenschaft rekonstruieren.

Am 13. März 1937 machen Loki Glaser und Helmut Schmidt ihr Abitur. Eigentlich zu früh, doch braucht der Führer frische Soldaten für den bevorstehenden Krieg. Klassenprimus Helmut glänzt mit bravourösen Noten: Geschichte und Deutsch "sehr gut", Religion "gut". Im Englischen ausgezeichnete Leistungen, in Musik ebenfalls. Physik und Chemie: geht so.

In Hamburg wird immer heftiger Hatz auf Juden gemacht; bis zu den Massentransporten in Konzentrationslager und bis zum Überfall auf Polen am 1. September 1939 ist es nicht mehr weit. Aus dem Schüler "Schmiddel" ist der erwachsene Helmut Schmidt geworden.

Der Mann ist 18 Jahre alt und strotzt vor Kraft. Daher bereitet ihm der Reichsarbeitsdienst keine Probleme. Der Barmbeker kommt dort zum Einsatz, wo er genau ein Vierteljahrhundert später seine Macherqualitäten so richtig beweisen und eine beeindruckende Politkarriere starten wird: an der Elbe, südlich der Hamburger Innenstadt. Helmut Schmidt hilft beim Deichbau. Nahe jener Stelle, an der Anfang 1962 die Deiche brechen sollen.

Wenig später wird er nach Bremen-Vegesack versetzt, einem maritim geprägten Bezirk im Norden der benachbarten Hansestadt. Im Rahmen seiner zweijährigen aktiven Wehrpflicht an der Weser wird er einer Flakkompanie zugeteilt, die Bremen verteidigen soll.

Gegen Ende seines Wehrdienstes dient Helmut Schmidt im Flakregiment 28 und stellt sich auf das zivile Leben ein. Studieren, danach Architekt oder Stadtplaner zu werden wäre der eine Weg, zügig Geld zu verdienen und Deutschland vorübergehend den Rücken zu kehren der andere. Denn dem jungen Hanseaten dämmert immer intensiver, dass die Nazis sein Land ins Unglück führen. In einem von Vater Gustav spendierten blau karierten Jackett, mit einer Portion Mut im Herzen stellt er sich im Hamburger Personalbüro der Deutschen Shell vor. Im Auftrag des Mineralölkonzerns, so das Ziel, könnte er nach Holländisch-Indien reisen, dem heutigen Indonesien. Helmut Schmidt verspürt den Lockruf der großen weiten Welt. Doch macht Adolf Hitler ein Kreuz durch diese Pläne.

"Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen", tönt des Führers brüllende Stimme durch das Dampfradio in der elterlichen Wohnung an der Schellingstraße 9 in Eilbek. Die Wehrmacht, der Helmut Schmidt just enteilt zu sein schien, überfällt Polen. Der Zweite Weltkrieg beginnt.

Zu Loki Glaser besteht seit dem Abitur weitgehend Funkstille, man hört nur gelegentlich voneinander. Während eines Heimaturlaubs des an die Ostfront abkommandierten Helmut Schmidt reist die junge Lehrerin Loki nach Berlin, um ihren alten Schulfreund "Schmiddel" zu besuchen. Beide sind Anfang 20. Es sind zarte Bande, die die jungen Leute wieder knüpfen wollen. Zwar hatte Loki ihre zeitweilige Jugendliebe während der Wehrpflichtzeit in Bremen-Vegesack besucht, doch waren dem Paar damals nur drei Stunden geblieben.

Nun hat Helmut an Loki einen Brief gesandt, den die Eltern nachschickten. Darin steht sinngemäß: Lebe und arbeite jetzt in Berlin, komm doch mal auf eine Urlaubswoche vorbei. Geschrieben, getan. Auf in die Hauptstadt, auf ins Glück!

Die beiden begrüßen sich, nicht mehr, und fahren nach Sanssouci in Potsdam. In der Nähe des Schlosses bittet Helmut seinen Gast darum, kurz auf dem Trottoir zu warten. Er wolle ihr ein Zimmer besorgen für die Zeit des einwöchigen Besuchs, sagt Helmut lediglich und verschwindet im Büro einer Wohnungsvermittlungsagentur. Ein paar Minuten später kommt er frech grinsend heraus und gibt allerbester Dinge einen Satz von sich, dessen Tragweite Loki in diesem Augenblick gar nicht begreift: "Weißt du eigentlich schon, dass wir verheiratet sind?"

Lokis entgeistertem Blick folgt Helmuts Erklärung: "Ohne diese Behauptung hätte ich das Zimmer nicht gekriegt." Offensichtlich wurde ungern an alleinstehende junge Damen vermietet. Ob aus finanziellen oder moralischen Gründen, sei dahingestellt.

Man kommt sich also näher. Entscheidend näher. Die beiden verbringen eine traumhaft schöne Woche in der Hauptstadt des Deutschen Reichs. Die alte Vertrautheit ist plötzlich wieder da. So wie einst im Stadtpark zu Hamburg, als zwei Herzen im Einklang schlugen.

Stundenlang bummeln sie Unter den Linden, flanieren über den Kurfürstendamm, landen am Nollendorfplatz. Und dort, auf einer Bank unter den Bahngleisen, passiert es: Loki Glaser und Helmut Schmidt geben sich das Eheversprechen. Es ist so etwas wie eine inoffizielle Verlobung.

Für die kirchliche Hochzeit am 1. Juli 1942 in Hambergen bei Bremen hat sich Loki extra taufen lassen. Ob aus Gründen der Romantik oder als symbolischer Protest gegen das religionsfeindliche NS-Regime, wird auch später nicht ganz klar. Jedenfalls erscheint Frau Schmidt in einem selbst genähten rosafarbenen Kleid mit Kragen sowie einem Schleier. Die Knöpfe ihres Kleides hat Loki selbst bezogen - auch im Detail sollte alles stimmen an diesem wunderschönen Tag.

Wieder in Hamburg, beziehen die Doppelverdiener eine geräumige Wohnung an der Gluckstraße im heutigen Barmbek-Süd, Helmuts vertrautem Geburtsstadtteil. Er arbeitet jedoch weiter im für die Luftwaffe zuständigen Ministerium in Berlin. Vor der Wohnung an der Gluckstraße wohnten beide in Eilbek "auf Zimmer", wie es damals hieß. Und zwar an der Fichtestraße, in einem Eckhaus zur Wandsbeker Chaussee hin. Sehr klein, auch nicht mein, erst recht nicht fein - aber besser als gar nichts.

Am Horizont ziehen dunkle Wolken auf. Im wahrsten Sinn des Wortes. Während eines Aufenthalts in einem Landheim an der Ostsee im Juli 1943 traut Loki Schmidt ihren Augen kaum. "Im morgendlichen, blutroten Sonnenlicht ist ein merkwürdiger Dunst zu erkennen", schreibt sie Jahre danach. Im selben Moment dämmert die fürchterliche Erkenntnis: Hamburg brennt! Und so ist es. Die Alliierten haben die "Operation Gomorrha" gestartet und bombardieren flächendeckend. Während die Familie in der winzigen Wochenendhütte der Glasers in Neugraben Unterschlupf findet, muss Helmut Schmidt zurück in seine Dienststelle nach Berlin.

Am 26. Juni 1944, fast auf den Tag genau zwei Jahre nach der standesamtlichen Hochzeit, bringt Loki Schmidt einen Sohn zur Welt. Helmut Walter Moritz ist da! Nachdem der Vater an die Westfront versetzt wird, erkrankt "Moritzelchen" an Gehirnhautentzündung, hat hohes Fieber, wird von Krämpfen geschüttelt. Natürlich gibt es in diesen Wochen des nahenden Zusammenbruchs keine Antibiotika und keine medizinische Versorgung für die Zivilbevölkerung mehr.

Es ist wie in einem Albtraum: Hilflos sitzt Loki Schmidt in dem unbeheizten Zimmer auf dem Lande, wischt ihrem Kleinen den Schweiß von der Stirn, streichelt das Baby - und muss ihm voller Verzweiflung beim Sterben zusehen.

Am 26. Februar, einem eiskalten Wintertag kurz vor der bedingungslosen Kapitulation, haucht das Kind sein Leben aus. Die entsetzte Mutter ist zu sehr entkräftet, um noch weinen zu können. Und Ehemann Helmut ist an der Front. Lebt zumindest er noch?

Lesen Sie morgen - Teil 4 Duft der weiten Welt: Nach dem Krieg will Helmut Schmidt mit der SPD die Chancen des Neuaufbaus nutzen. Da macht sein Onkel in Amerika ihm ein verlockendes Angebot.