Unser Wissen über den modernen Menschen und seine Vorfahren ist voller Lücken. Jeder neue Fund wirft bestehende Theorien um

Es kommt nicht oft vor, dass man einen Menschen erst richtig gut erkennt, wenn er nur noch aus Knochen ohne Haut besteht. Doch beim Homo neanderthalensis, also unserem ausgestorbenen Verwandten, verrät das Skelett am sichersten die typischen Merkmale dieser Menschenart: sein kräftiges Becken, seine stärkeren Beine, die vergleichsweise zierlichen Arme. Alle anderen anatomischen Unterschiede zu jenen, die zum Beispiel gerade diesen Text lesen, würden kaum ins Auge fallen, würde uns ein Neandertaler-Exemplar mit Haut und Knochen, gekleidet im hanseatisch-üblichen Outfit des Jahres 2011, auf der Mönckebergstraße entgegenkommen.

Nach vielen Umwegen hat der Neandertaler seinen Ehrenplatz an herausragender Stelle direkt neben dem modernen Menschen gefunden. Hier gehört er hin. Neue Forschungsergebnisse von Urgeschichtlern und Genforschern lassen kaum Zweifel. Der Neandertaler war keine keulenschwingende Dumpfbacke, sondern uns Menschen von heute so ähnlich, dass etwa Bruchstücke seiner Zähne nur sehr schwer der jeweiligen Art zuzuordnen sind. So geschehen bei dem Bruchstück zweier winziger Zahn-Fossilien, die in den 1960er-Jahren in einer Höhle im süditalienischen Apulien, der Grotta del Cavallo, gefunden worden waren. Sie wurden für Neandertaler-Milchzähne gehalten. Jetzt stellte sich nach komplizierten Analysen im Computertomografen heraus: Die Zahnreste stammen von Kindern des Homo sapiens.

Das Sensationelle daran liegt in der neu errechneten Zeitspanne, aus der dieser Fund stammt: Er ist 43 000 bis 45 000 Jahre alt. Das bedeutet: Der moderne Mensch war deutlich früher in Europa als angenommen und hatte deshalb mindestens 5000 Jahre länger Gelegenheit, den Neandertaler zu treffen. Wie groß war die Konkurrenz dieser Menschenarten wirklich? Darüber kann nur spekuliert werden.

Auch bestehende Clans derselben Menschenart werden damals nicht immer friedlich zusammengetroffen sein. Jede Begegnung muss wie ein Versuch gewirkt haben, dem anderen die Jagdgründe oder die Sammelplätze der Früchte und essbaren Pflanzen streitig zu machen. Egal, ob Neandertaler auf Neandertaler, moderner Mensch auf moderne Menschen trafen oder sich kreuzweise Kontakte ergaben.

Die in dieser Woche bekannt gewordenen Erkenntnisse zur Menschheitsgeschichte belegen auch, wie brüchig unser Wissen über die Entwicklung des Menschen ist. Mit jedem neuen Fund, mit jedem neuen Wissen über alte Fundstücke zerbrechen bestehende Theorien. Je weiter wir in der Zeitspanne zurückgehen, umso dichter wird der Nebel, der über allem liegt. So muss fast bei jedem Fossilienfund aus dem Osten Afrikas, der Wiege der Menschheit, der Stammbaum der menschenähnlichen Vorfahren neu geschrieben werden. Zwei Zahnreste aus Süditalien korrigieren nun die Zeittafel, auf der notiert war, seit wann der moderne Mensch in Europa lebt. Mit seiner Verbreitung geriet der Neandertaler ins Abseits.

Dass der Neandertaler als eigene Art nicht mehr existiert, heißt aber nicht, dass er völlig verschwunden ist. Schon bevor Forscher das Genom des gedrungenen Verwandten mit den ausgeprägten Augenwülsten entschlüsselten, auf der Suche nach Gemeinsamkeiten mit Homo sapiens, war Wissenschaftlern wie dem Chef des Neandertal-Museums am Fundort des ersten Exemplars bei Düsseldorf klar, dass beide Menschenarten sich vermischt haben. Der Beweis liegt in den Genen. Bis zu vier Prozent Neandertaler-Gene stecken heute noch in uns. Das ist nicht mit gemeinsamen Vorfahren zu erklären, die als weit entfernte gemeinsame Verwandte vor 500 000 Jahren lebten.

Die im Erbgut schlummernden Geheimnisse will das Team um Svante Päabo vom Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in den kommenden Jahren lüften. Dann könnten wir erfahren, wie es um seine Sprachfähigkeit bestellt war, um seinen Stoffwechsel und seine Geisteskraft. Vielleicht war der Neandertaler noch schlauer als gedacht - und hat sich nur rechtzeitig aus dem Staub gemacht.