Seit 1999 wird das Mädchen aus Lurup vermisst. Die Familie hofft immer noch auf den entscheidenden Hinweis. Thema bei “XY ungelöst“.

Hamburg. Das Bild, das sich in das Gedächtnis so vieler Hamburger eingebrannt hat, zeigt ein Mädchen mit dunklen dichten Locken, tiefdunklen Augen und schelmischem Lächeln. Es trägt einen roten Pullover, dazu ein passendes Haarband. Es ist ein süßes, ein hübsches Mädchen, das fröhlich in die Kamera schaut. Ein ganz typisches Bild für Hilal, findet ihre Mutter, Ayla Ercan. Aufgenommen wurde es im Januar 1999, kurz bevor Hilal Ercan spurlos verschwand. Seitdem, seit mehr als zwölf Jahren, fehlt jede Spur von ihr.

Sollte sie noch leben, dann wäre sie heute 23 Jahre alt. Doch Polizei und Familie glauben nicht mehr daran, Hilal Ercan noch einmal wiederzusehen. Ihr Verschwinden und ihr mutmaßlicher Tod machen es der Familie bis heute unmöglich, so etwas wie Freude oder Ruhe zu finden. "Die Bitterkeit bleibt", sagt Hilals Schwester Fatma. "Der Hass auf den Mann, der ihr und uns das angetan hat, wächst", sagt ihr Bruder Abbas. Mutter Ayla sitzt oft einfach nur da und schweigt.

Am 27. Januar 1999 hatte Hilal, damals zehn Jahre alt, ein tolles Halbjahreszeugnis nach Hause gebracht. Zur Belohnung durfte sich das Mädchen etwas Süßes im Einkaufszentrum Elbgaupassage kaufen. 50 Meter waren es von der damaligen Wohnung der Familie bis zum Laden. Mit dem Fahrstuhl nach unten, über die Straße, über einen Parkplatz, hinein ins Geschäft. Ein Weg, den sie schon hundertmal gegangen war. Hilal kaufte sich Hubba Bubba, der Gemüsehändler aus der Passage sah sie noch um 13.25 Uhr. Schnurstracks war sie wieder auf dem Heimweg, erinnerte er sich. Auf dem Parkplatz endete mit dem Heimweg auch das Leben der Zehnjährigen, wie sie es bis dahin kannte - wie dieses Leben endete, weiß bis heute vermutlich nur ein Mann. Hilal war wie vom Erdboden verschluckt. Alles spricht dafür, dass sie entführt wurde. Und dann?

+++ Thema bei "XY ungelöst" +++

+++ Ermittlungsfehler im Fall Hilal +++

Es dauerte eine Zeit, bis die Fahndungsmaschinerie anlief, erinnert sich Ayla Ercan. "Zuerst haben die Polizisten gesagt, Hilal komme ganz gewiss wieder. Sie habe eine Freundin getroffen und sei bestimmt mit ihr spielen gegangen. Sie haben gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen, aber ich habe sofort gewusst, dass etwas nicht stimmt. Ich habe es im Magen gespürt." Für die Hamburger Polizei begann, nachdem klar war, dass das Kind nicht mit einer Freundin spielen gegangen war, die größte Suchaktion der Kriminalgeschichte. 400 Hinweisen ging die Soko "Morgenland" nach, doch eine Spur zum Täter war nicht darunter. Für die Familie, Ayla und Kamil Ercan und die damals neun und zwölf Jahre alten Kinder Fatma und Abbas begann ein Leben, das eigentlich keines ist. Die Verwandtschaft wurde durchleuchtet, auch in der Türkei. Denn meist finden sich die Täter bei Kindesentführungen in den Familien. Nicht so im Fall Hilal. Zweimal gestand der im Maßregelvollzug in Ochsenzoll einsitzende Delinquent Dirk A., Hilal getötet und verscharrt zu haben. Zweimal widerrief er sein Geständnis. Dann vermutete die Polizei, dem einschlägig vorbestraften Kinderschänder Hans-Joachim Q. könne die Tat nachgewiesen werden. Doch auch dieser Versuch misslang. Einmal rief ein Mann bei der Familie an und bestellte Kamil Ercan zur Christuskirche. Er solle allein kommen, sagte der Anrufer. Dann werde er erfahren, was mit seiner Tochter geschehen sei. Kamil Ercan fuhr hin, mit der Polizei im Rücken. Der Anrufer blieb weg. "Wir haben nichts", sagt die Mutter der vermissten Hilal. Und gibt damit wohl auch den heutigen Stand der Ermittlungen wieder.

Fatma Ercan, damals neun, war die Letzte aus der Familie, die Hilal gesehen hat. An jenem 27. Januar war sie mit ihrer großen Schwester ins Erdgeschoss des Hochhauses gefahren, in dem die Familie wohnte. "Seitdem mache ich mir Vorwürfe, dass ich nicht mit ihr zum Kiosk gegangen bin", sagt die junge Frau, in deren Gesicht man die Züge Hilals zu erahnen glaubt. "Ich weiß, dass es unsinnig ist, aber diese Gedankenspiele wird man nicht los." Auch Abbas macht sich Vorwürfe, weil er an dem Tag, als seine kleine Schwester verschwand, nach der Schule noch bei einem Freund war: "Wäre ich sofort nach Hause gegangen, hätte ich vielleicht gesehen, wie der Täter versucht, Hilal in ein Auto zu zerren." Ein Busfahrer hatte eine solche Szene zur betreffenden Zeit an der Elbgaupassage beobachtet.

In den Jahren nach Hilals Verschwinden hat die Mutter schwere gesundheitliche Schäden hinnehmen müssen. Wenn sie auf dem Sofa über Hilal spricht, kommen ihr die Tränen. Sie weint stumm, so, wie es schon in den Tagen war, als Hilal noch von einem Großaufgebot gesucht wurde. Sie leidet heute unter Panikattacken und Depressionen. Die Zahl der schlaflosen, durchweinten Nächte ist nicht zu beziffern. Kamil Ercan frisst zu viel von der Trauer in sich hinein, findet seine Tochter Fatma. "Männer sind da ja anders. Aber wir als Familie halten zusammen in unserem Schmerz, den sowieso kein anderer nachvollziehen kann. Das ist die größte Stütze", sagt die 22-Jährige.

Der durchtrainierte Abbas malt sich manchmal aus, was er mit dem Mann machen würde, der seine Schwester auf dem Gewissen hat - wenn er denn nur sicher sein könnte. "Wenigstens ein Grab, an dem wir trauern können", wünscht sich Ayla Ercan. "Und wieder: Wir haben nichts. Nicht einmal die Knochen." Ihre Tage seien dunkel, sagt sie mit verweinten Augen. Sehr dunkel. Die ganz schwarzen Tage, das sind Hilals Geburtstage und die Jahrestage des Verschwindens. Hilals Geschwister sind mit der Trauer aufgewachsen. Wenn sie an sie denken, dann sehen sie sie lächeln. "Sie hat viel gelacht", sagt Fatma. "Sie war ein selbstbewusstes Mädchen, das sich nichts gefallen ließ", sagt Abbas.

Bilder von Hilal sucht man in der Wohnung der Familie Ercan vergebens. Vermutlich, weil Hilal sowieso und auch nach all den Jahren noch überall präsent ist. Das Ehepaar hat nach ihrem Verschwinden noch einen Sohn bekommen. Er fragt oft nach Hilal, von der er nur weiß, dass sie eigentlich auch zur Familie gehört. Wenn seine Mutter weint, weint auch er. Sein Vorname bedeutet auf Türkisch Hoffnung und Kraft. Er ist jetzt so alt wie Hilal, als sie aus dem Leben verschwand.