Rückblende, Erinnerungen an die Jugend. Im engen Zuhause lernte der junge Uwe Seeler schon früh Rücksichtnahme und Ehrlichkeit.

Hamburg. Plötzlich kommt auf eine sehr geheimnisvolle Weise dieses seltsame Gefühl hoch: Man müsste noch einmal vorbeischauen, man müsste die Stätte seiner Jugend besuchen. Dort einmal Stopp machen, wo man als Kind Träume vom Himmel holte. Nur noch einmal kurz nachsehen, ob noch alles so ist, wie es in Gedanken aufgezeichnet scheint. Kurzum: Rückblende, Erinnerungen an die Jugend.

Uns Uwe müsste nach Eppendorf fahren, Hamburgs ältestem Dorf, das seit dem Jahre 1894 eingemeindet ist. Die Lage am Wasser, "epen", wie es im Altgermanischen hieß, zog wohlhabende Hanseaten für einen Kurzurlaub an, doch auch Arbeiterfamilien fanden hier ihren Platz.

Seeler müsste an der Wentzelstraße/Ecke Friedrichstraße Stopp machen vor einem sechsstöckigen Familienhaus. In der dritten Etage lebten die Seelers: Mutter Anni, "Vaddern" Erwin, Schwester "Purzel" Gertrud, Bruder "Didi" Dieter, Uwe und Dauergast Onkel "Moni", Mutters Bruder, der beim Traditionsverein S.C. Victoria als Torwart spielte und später auf Druck der Familie natürlich zum HSV wechseln musste.

Es war eng in der dritten Etage, verdammt eng. "Es waren", sagt Uwe heute, "richtige Löcher, in denen wir leben mussten. Die Küche war so lütt, dass Muttern nicht vom Küchentisch aufstehen musste, um den Kochtopf mit Suppe auf den Tisch zu balancieren."

Die Aufteilung der häuslichen Schlafstätten glich einer logistischen Meisterleistung. Die Schwester nächtigte bei den Eltern, die beiden Söhne im Wohnzimmer, der Onkel neben dem Küchentisch auf der Bank.

Die Enge, das ständige Improvisieren, auch der tägliche Kampf um Nahrung und Kleidung - das alles sorgte für eine ganz besondere Atmosphäre. Sie beeinflusste auch Seelers Lebensphilosophie. Uwe: "Ich lernte Rücksichtnahme und Ehrlichkeit. Ich lernte die direkte, klare Ansprache, und ich lernte den Wert einer Familie zu schätzen."

Das Zusammengehörigkeitsgefühl hat sich bis heute nicht geändert, unabhängig von einem Generationswechsel und der "Nachwuchsförderung". Die drei Töchter und sieben Enkelkinder sind alle stark vom Sport beeinflusst.

Dieses Erbgut kommt aus der Dreizimmerwohnung in Eppendorf. Sport, speziell Fußball, bestimmte den Lebensrhythmus. Kein Tag ohne Straßenbolzerei. Immer das Endlosduell HSV gegen Pauli. Der Kindergarten wird dem Jungbolzer Seeler zum Albtraum. Er streikt sogar, die Schule ist ihm nicht sympathisch. Braver Durchschnitt steht im Zeugnis als Allgemeinbeurteilung. Nur im Bereich Sport steht die Note "überdurchschnittlich".

Am 1. Januar 1946, einem eiskalten Wintertag, steht der kantige Erwin Seeler in der Geschäftsstelle des HSV und brummelt: "Nach Didi kommt jetzt Uwe in den Verein." Uwe erhält die Nummer 1725 und einen richtigen Ausweis.

Ein ganz neues "Fußball-Leben" beginnt. Ganz langsam, ganz behutsam. Der Buttje Seeler macht aber auch keine großen Fortschritte im Verein, die Straße ist ihm lieber.

Es wird ganz anders, als 1948 beim HSV ein großer, schlanker, sehniger Mann auftaucht: der Studienrat Günther Mahlmann. Mahlmann ist es gewohnt, sich schnell Respekt zu verschaffen. Der Senior Seeler erinnert sich noch heute an Mahlmanns erste Rede. "Hört mal zu, ihr Schlipse, im Fußball gibt es eine bestimmte Ordnung wie im Leben. Es wird nach Grundsätzen trainiert. Ihr meint, wenn ihr auf der Straße mit Blechdosen herumgebolzt habt, könnt ihr Fußball spielen. Irrtum, ihr Herren Knaben! Es ist unfair gegenüber euren Eltern, wenn ihr beim Bolzen auf der Straße dauernd die Schuhe kaputt macht."

Seeler nimmt sich die Worte zu Herzen. Sein Aufstieg beginnt. Schon am 15. August 1953, noch keine 18 Lenze jung, steht er in der Ersten-Liga-Mannschaft des HSV im Freundschaftsspiel gegen Göttingen 05 und erzielt das 1:0.

Der langjährige Aufsichtsratsvorsitzende Uwe Bandow erinnert sich schmunzelnd: "Der Kleine spielte gegen einen Zweimetermann namens Bacher. Und er spielte ihn schwindelig. Da wusste ich schon: Dieser Junge wird ein ganz Großer." Er sollte recht behalten, ein guter Prophet.

Neben einer Lehre als Speditionskaufmann im Hamburger Hafen ist Uwe Seeler der überragende Mann schon beim Fifa-Jugendturnier in Belgien 1953. Im Juli 1954 erhält er seine Spielberechtigung als Liga-Spieler, und am 16. Oktober 1954 betritt er die Bühne der Nationalmannschaft. Er bestreitet sein erstes Länderspiel für Deutschland gegen Frankreich (1:3), 71 folgen - mit vier Weltmeisterschaften: 1958 in Schweden (vierter Platz), 1962 in Chile (Ausscheiden im Viertelfinale), 1966 in England (zweiter Platz) und 1970 in Mexiko (dritter Platz).

Es sind Ereignisse mit reichlich Auf und Ab, mit vielen Problemen, die nur gemeistert werden können durch das Rüstzeug aus dem Elternhaus unter dem Motto: Ein Seeler gibt niemals auf. Uwe gesteht: "Das war der Reichtum meines Lebens."

Wer das Vergnügen und die Ehre hat, zu Gast im Hause Seeler sein zu dürfen, kann diese "Reichtümer der Erinnerung" und die Ausbeute einer großen Karriere besichtigen. Gleich neben der Haustür führt eine schmale Treppe in die Tiefe zu zwei Kellerräumen. Hier stapeln sich Wimpel, signierte Trikots, Pokale, Fotos, Alben, Gemälde. Alles nicht katalogisiert.

Uwe sitzt auch nicht gedankenversunken in dieser Schatzkammer und wühlt in der Vergangenheit, sondern er sagt vielmehr lachend: "Vergangenheit ist doch abgepfiffen. Über meine Zukunft mache ich mir keine Gedanken. Diese kann ich doch sowieso nicht beeinflussen. Ich habe an die Zukunft nur einen Wunsch: Möge sie positiv für meine Familie und meine Freunde sein."

Seine Stimme klingt dabei sehr ernst. Jede Widerrede zwecklos.

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