Unter schärfsten Sicherheitsvorkehrungen begann der Prozess gegen den Rentner, der am Hachmannplatz ein Kind überfuhr und tötete.

Hamburg. Heidrun S. sitzt im Zeugenstand, eine große, kräftige Frau von 70 Jahren. Sie ist hier, um die Wahrheit zu sagen, aber auch um ihrem heute 75 Jahre alten Ehemann beizustehen. Sie hat viel über die Scham gesprochen und die Verzweiflung nach dem Unfall, den ihr Mann verschuldet hat. Auch über die Morddrohungen gegen ihre Familie, die dazu führten, dass der Prozess im Amtsgericht unter schärfsten Sicherheitsvorkehrungen stattfindet. Doch dann rutscht ihr ein Satz über die Lippen: "Für mich war mein Mann der beste Autofahrer der Welt."

Eine Formulierung, die unglücklicher kaum sein könnte. Auch wenn Heidrun S. nur zum Ausdruck bringen wollte, wie sicher sie sich fühlte, wenn ihr Mann am Steuer saß - in den Ohren der Eltern von Joel-Rayan klingt der Satz wie blanker Hohn. Zumal sich Günther S. seit gestern vor Gericht verantworten muss, weil er aus Sicht der Staatsanwaltschaft fahrlässig den Tod des Vierjährigen verschuldet hat.

Joel-Rayan war ein hübscher Junge. Blonde Locken, braune Augen, dazu ein verschmitztes Lächeln. Am 11. Mai 2010, es war ein kühler Frühlingstag, überquerte Katarina Schwarz, 33, mit Joel-Rayan und ihrem Bruder Lukas den Hachmannplatz am Hauptbahnhof. Da fuhr plötzlich ein rückwärts ausparkender Wagen wie ein Geschoss in den Fußgängerbereich, direkt auf sie zu. Mit mindestens 15 km/h schlug das Auto einen Eisenpoller um, dann begrub es die drei unter sich. Die Kraft, mit der sie getroffen wurden, war vergleichbar mit einem Aufprall des Autos aus einem Meter Höhe. Minuten später wurde Katarina Schwarz unter dem Wagen hervorgezogen. Ihr Sohn starb auf dem Weg in die Klinik.

Die Mutter erscheint ganz in Schwarz vor Gericht. Sie tritt als Nebenklägerin und Zeugin auf. 2,4 Sekunden dauerte die Todesfahrt des Renault Laguna. Nur ein Sekundenbruchteil reichte aus, um das Leben der einst so fröhlichen Frau in ein Schattenspiel zu verwandeln. Sie fühle sich "so leer", sagt sie und erzählt unter Tränen von der Katastrophe. Wie ihr Bruder schrie "Vorsicht! Der hält nicht an", wie sie im nächsten Moment unter dem Auto lag, es kurz dunkel wurde. Wie sie sich umdrehte, die Hand ihres Jungen ergriff und schrie "Mein Sohn, mein Kind!" Dann sah sie Joel-Rayan auch schon auf dem Schoß ihres Bruders liegen. Sie ahnte nicht, dass er im Sterben lag. Dass sie ihn nie wieder lächeln sehen würde.

Mit einem Milzriss und inneren Blutungen wurde Katarina Schwarz ins Krankenhaus eingeliefert und notoperiert. Es war knapp. Stunden später erwachte sie aus der Narkose, da erfuhr sie es. Die erste Reaktion: Unglauben. Dann sah sie Joel-Rayans Leiche und glaubte, ihr Junge würde nur schlafen. Als sie dann gewahr wurde, dass der Albtraum kein Albtraum war, glaubte Katarina Schwarz an gar nichts mehr.

Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Günther S. aus Unachtsamkeit mit dem rechten Fuß vom Brems- auf das Gaspedal abgerutscht war - er bestreitet den Vorwurf. Weil der Fall nur vor einer Einzelrichterin zur Anklage gebracht wurde, liegt die Straferwartung bei maximal zwei Jahren.

Ein gebrochen wirkender Mann mit hoher Stirn und schütterem Haar sitzt auf der Anklagebank. Der Mittsiebziger hat zwei Krebsleiden überstanden und ist nur eingeschränkt verhandlungsfähig. "Ich möchte den Eltern mein tiefstes Mitgefühl und Bedauern aussprechen", trägt sein Verteidiger im Namen seines Mandanten vor. Unerträglich der Gedanke, dass nichts ihren Sohn je wieder lebendig mache.

Günther S. behauptet, er habe den Automatikwagen rückwärts aus einer engen Parklücke gesetzt und plötzlich einen Krampf im rechten Bein verspürt, ihm sei "ganz weiß oder trüb vor Augen geworden". Das Nächste, an das er sich erinnere, sei der laute Knall gewesen. Seine Frau Heidrun lotste ihn damals aus der Lücke. "Der Wagen wurde immer schneller, ich habe versucht, das Auto mit beiden Händen zu packen, aber es entglitt mir", erzählt sie unter Tränen. Nach der Kollision habe sie ihren Mann im Auto gesehen. "Ich dachte, er ist tot. Sein Unterkiefer hing herunter, er war völlig bewegungslos." Nie zuvor habe sie allerdings bemerkt, dass ihr Mann einen Krampfanfall hatte.

Ihr Leben sei komplett aus den Fugen geraten, sagt Heidrun S. Da war der Telefonterror, der einen Tag nach dem Unfall begann. Die anonymen, teils blutverschmierten Briefe, in denen sie und ihre Kinder mit dem Tod bedroht worden seien. Und die Flugblätter, auf denen neben ihrer Anschrift der Schriftzug "Kindermörder" prangte. Sogar der Arbeitgeber ihres Sohnes habe E-Mails mit einem beigefügten Foto des in der Rechtsmedizin aufgebahrten toten Jungen erhalten. Aus Angst verbringen sie die Abende in ihrer Wohnung noch immer im Dunkeln, die ganze Hetze habe sie so zermürbt, dass sie sich in eine psychiatrische Klinik einweisen ließen. Sie hätten für Joel-Rayan gebetet und in drei Briefen an die Eltern ihre "tiefe Trauer und tiefe Scham" bekundet. "Ich dachte, vielleicht sehen sie, dass wir einfache Menschen sind, die immer gearbeitet haben, dass wir ein bisschen Vergebung bekommen."

Die Eltern von Joel-Rayan sind dazu nicht imstande. "Ich glaube denen nicht", sagt Katarina Schwarz. "Sie reden von ihrem harten Leben, aber sie haben doch das meines Sohnes genommen", sagt sie. Heinz Hochwald, der Vater des Jungen, verlässt den Gerichtssaal wutschnaubend. "Hier macht der Täter auf Opfer." Nach dem Unfall gründete er die Initiative "Alt am Steuer". Hochwald fordert verpflichtende Eignungstests für Autofahrer ab 60. Für Günther S. spielt das keine Rolle mehr: Seit dem Unfall habe er sich nie wieder hinters Steuer gesetzt. Und das werde auch so bleiben.