Der Eidelstedter Weg mitten in Eimsbüttel: Altbauchic trifft auf sozialen Brennpunkt. Eine Geschichte von einander fremden Nachbarn.

Lokstedt/Eimsbüttel. Im Discounter am Eidelstedter Weg treffen zwei Welten aufeinander. An der Kasse wartet ein Mann mit grauem Haar, schwarzem Pullunder und weißem Hemd. Während des gesamten Einkaufs nimmt er sein Handy nicht vom Ohr. Es geht um Termine und Dokumente. Ein Stück weiter hinten im Laden hat ein Mann im gleichen Alter ein ganz anderes Problem. Mit seinem linken Arm umklammert er zwei Sechserpacks mit Bier in Plastikflaschen, in der anderen Hand hält er eine Flasche billigen Weinbrand. Und irgendwie muss er jetzt diese Salami, die vor ihm im Regal liegt, noch transportieren. Er trägt eine Jogginghose und einen schmutzigen Parka.

"Der Supermarkt ist einer der wenigen Orte, an denen die Menschen von beiden Seiten der Straße aufeinandertreffen", sagt Hannes Wellmann, der in einem Altbau mit ungerader Hausnummer und damit auf der südlichen Seite des Eidelstedter Wegs wohnt. Wenn der 30-Jährige auf seinem Balkon sitzt, blickt er direkt auf einen großen grauen Koloss - ein Gebäude der Lenzsiedlung. Und obwohl es zu den Balkonen auf der gegenüberliegenden Seite nur wenige Meter Luftlinie sind, kommt die zweispurige Straße dazwischen einem unüberwindbaren Graben gleich, der zwei Welten trennt.

Die Lenzsiedlung ist ein Projekt, das in die Kategorie sozialer Wohnungsbau fällt. Die in den 70er- und 80er-Jahren errichteten Hochhäuser mit bis zu 14 Stockwerken sollten auch Menschen mit geringem oder gar keinem Einkommen innenstadtnahes Wohnen ermöglichen. Ein schwieriges Quartier, das zu kippen drohte. 2000 nahm der Hamburger Senat die Lenzsiedlung in die Förderprogramme "Soziale Stadtteilentwicklung" auf und sanierte erfolgreich. Der Komplex ist dem Stadtteil Lokstedt zugeordnet, die Häuser gegenüber im Eidelstedter Weg gehören zu Eimsbüttel. Das ist nicht der einzige Unterschied.

+++Die Abendblatt-Serie: Die lieben Nachbarn+++

In dem Gebiet zwischen Eidelstedter Weg und Lutterothstraße, in dem auch Wellmanns Wohnung liegt, hat das Fachamt Sozialraummanagement des Bezirksamts Eimsbüttel diese Daten erhoben: Die Hälfe der Anwohner sind zwischen 30 und 54 Jahre alt, Minderjährige sind mit fast neun Prozent vergleichsweise wenig vertreten, der Anteil der Ein-Personen-Haushalte liegt bei 72 Prozent, nur in gut neun Prozent der Haushalte leben Kinder, rund 17 Prozent der Anwohner haben Migrationshintergrund, etwa jeder 20. erhält Hartz IV, und die Arbeitslosenrate liegt bei 3,6 Prozent. Eine Menge unhandlicher Zahlen, die sich an Hannes Wellmann gut verdeutlichen lassen: 30 Jahre, wohnt alleine, keine Kinder, kein Migrationshintergrund, erwerbstätig - so ist er der typische Eimsbüttler in dieser Ecke des Stadtteils.

Gegenüber von ihm wohnt Brigitte Segerholm, 42, in der Lenzsiedlung. Die alleinerziehende Mutter hat fünf Kinder, von denen vier noch bei ihr leben. Sie ist Hausfrau und lebt von Hartz IV. Dies deckt sich mit den statistischen Daten für ihr Wohngebiet: Mehr als jeder vierte Bewohner ist minderjährig, in etwa 33 Prozent der Haushalte leben Kinder, ebenso hoch ist der Anteil der Ein-Personen-Haushalte, fast jeder Dritte erhält Hartz IV, und die Arbeitslosenquote liegt bei 8,7 Prozent. Der Anteil der Bewohner mit Migrationshintergrund liegt bei gut 73 Prozent.

"Eimsbüttel war einfach schon immer mein Ding", sagt Segerholm, die in einer Altbauwohnung in der Nähe des Parks Am Weiher aufgewachsen ist. Wegen steigender Mieten mussten ihre Eltern damals die Wohnung verlassen und in die Lenzsiedlung ziehen. Segerholm zog zu ihrem Freund. Aber schließlich landete auch sie in dem grauen Betonblock. Seit 18 Jahren lebt sie nun dort. "Ich würde auch gerne in einem Altbau wohnen, ich liebe die hohen Decken und Holzböden", sagt sie. "Aber das ist einfach zu teuer."

Ihre Betonung dieses Satzes klingt nach einer Mischung aus Akzeptanz und Wehmut angesichts dieser Erkenntnis. Eine Stimmung, die im Gespräch mit Segerholm häufiger auftritt. Etwa wenn sie erläutert, wie ihre Familie sich auf die Vierzimmerwohnung aufteilt: "Die beiden großen Kinder haben jeder ein eigenes Zimmer, und die jüngeren teilen sich eins." Und sie selbst? "Ich schlafe im Wohnzimmer. Geht ja nicht anders." An den Wänden ihres provisorischen Schlafzimmers hängen Zeichnungen von ihren Kindern, der zehnjährige Adrian packt gerade seine Sporttasche fürs Fußballtraining, im Ofen backt ein Apfelkuchen.

"Der Ruf der Siedlung ist schlechter, als sie ist", sagt Segerholm. Zu einigen ihrer Nachbarn habe sie einen guten Draht. Es gibt Spieleabende, ein Vater von nebenan arbeitet bei einem Pizza-Lieferservice und bringt abends oft ein paar Kostproben vorbei, und Ärger wegen in der Wohnung spielender Kinder gab es auch noch nie. Die Nachbarschaft ist multikulturell. "Manchmal fühle ich mich hier wie in Klein-Istanbul", sagt Segerholm. Aber das störe sie nicht. Andere Dinge stören dagegen schon. "Nachts wäre ich hier nicht gerne allein unterwegs." Sie könne nicht ausschließen, dass es Schlägereien, Drogen und Diebstahl gebe. Alkoholismus sei ein großes Problem.

Über die Nachbarn auf der anderen Seite des Eidelstedter Wegs weiß Segerholm wenig. Und selbst das Wenige entstammt nur der Beobachtung aus dem Fenster - denn direkten Kontakt hat sie nicht. "Ich habe gehört, dass dort viele Ärzte wohnen", sagt die Hausfrau. "Die haben wohl auch ein bisschen mehr Geld." Kinder, die mit den ihren vom Alter her befreundet sein könnten, habe sie noch nie aus den Türen kommen sehen. "Wenn, dann sieht man nur Kinder, die noch in der Karre liegen", sagt Segerholm, deren jüngstes Kind bald fünf wird. Ab und zu geht sie auf den Spielplatz am Hellkamp. "Aber da sieht man dann die gehobene Klasse und die ganzen Öko-Muttis mit der Superausstattung. Dann fühlen wir uns nicht so wohl." Und noch etwas ist ihr aufgefallen: "Da drüben brennt immer noch spät in der Nacht Licht in den Zimmern, wenn wir schon längst schlafen."

Auch Hannes Wellmann wundert sich über die Beleuchtungspraktiken seiner Nachbarn auf der anderen Straßenseite. "Die haben zu Weihnachten immer sehr viele grelle und zum Teil kitschige Lichterketten an ihren Balkonen", sagt der Zeitschriftenredakteur. "Ich kenne eigentlich nur die Fassade, das Innenleben lernt man nicht kennen." Lärm von Streitereien und Ehekriegen hat er von gegenüber noch nicht vernommen. "Entweder ist das zu weit weg oder das gibt es - anders als man denken könnte - nicht so häufig", sagt Wellmann.

Als Wellmann vor gut drei Jahren in die Gegend zog, warnten ihn einige Freunde: "Oha, da ist die Lenzsiedlung gegenüber. Dann nimm mal lieber den U-Bahn-Ausgang zur anderen Seite." Aber den damit verbundenen Umweg zu seiner Haustür findet er auch nicht gut. Und deswegen nimmt er nun den nördlichen Treppenaufgang, an dessen Ende meist ein paar Jugendliche herumlungern und Sprüche reißen. "Aber Angst hatte ich noch nie." Das liegt auch daran, dass ihm dann meist schon der Besitzer seines dort gelegenen Stamm-Döner-Imbisses zuwinkt. "Der und der Kiosk an der Ecke sind auch so Institutionen, die die beiden Straßenseiten etwas verbinden", sagt Wellmann. Und Fußballweltmeisterschaften vereinen die Bewohner. "Dann wird auf beiden Seiten bei einem Sieg der deutschten Mannschaft gejubelt." Nur die Form sei verschieden. Im Altbau schick mit Prosecco und in der Lenzsiedlung heftig mit Feuerwerksraketen.

Wellmann fühlt sich wie Segerholm wohl in seiner Nachbarschaft. Mit der älteren Dame von nebenan trinkt er ab und an ein Feierabendbier, mit anderen quatscht er über Politik im Speziellen oder das Leben im Allgemeinen. "Aber hier gibt es auch mal lauten Streit, sodass alle mithören können", sagt er. Und in seinem Haus leben auch Familien mit Migrationshintergrund - trotz aller statistischer Daten. Und um eine Sache beneidet er die Nachbarn von gegenüber sogar. "Die am Eidelstedter Weg haben einfach den viel schöneren Ausblick. Wir hier schauen ja immer auf den Betonklotz", sagt Wellmann.