Ich bin ein Kind der Jarrestadt. Als ich zwei Jahre alt war, zogen meine Eltern mit mir und meinem älteren Bruder in den Glindweg 2.

Auf der Wiese vor unserer Haustür stand schon damals, 1956, ein recht großer Kastanienbaum, dessen zahlreiche Kastanien von den vielen Kindern der Mieter im Herbst zum Basteln gesammelt wurden. Er war auch ein prima Kletterbaum. Mit neun Jahren wagte ich mich auch ein großes Stück hinauf und war natürlich mächtig stolz als Mädchen den Jungens gegenüber. Allerdings erlebte ich beim Abstieg ein Pleite: Ich stürzte ab und brach mir drei Brustwirbel an. Mein Klettermut brachte mir sechs Wochen Krankenhausaufenthalt - die Liebe zu unserem Baum blieb aber ungebrochen.

Als junge Frau verließ ich den Glindweg, kehrte aber 1983 mit meiner Tochter zurück. Wir wohnten ein paar Hausnummern weiter in das Haus Nummer 6. Viele der alten Nachbarn gab es noch. Einer war Herr Ulrich, ein besonders feiner und freundlicher Senior, der schnell zum Ersatz-Großvater für meine kleine Tochter wurde. Besonders schön war, dass er meine Liebe zu der Kastanie in der Mitte der Wiese teilte, die inzwischen höher war als die vier- bis fünfgeschossigen Häuser drumherum. 1985 widmete mir Herr Ulrich ein wunderschönes Gedicht über eben diesen Baum. Es heißt "Die Kastanie", ist drei Seiten lang und in seiner eleganten Handschrift geschrieben. Es zeigte sich, dass er den Baum selbst schon lange vor mir beim Wachsen beobachtet hatte und sich an seiner Pracht und dem majestätischen Aussehen erfreut hatte.

Der Baum steht immer noch im Innenhof des Glindwegs. Andere Bäume mussten wegen Krankheit längst gefällt werden. Inzwischen sind bis auf vier alte Mieter aus meinen Kindheitstagen alle gestorben. Auch Herr Ulrich lebt schon lange nicht mehr. Ich bin noch einmal ein paar Hausnummern weitergezogen. Meine Tochter und ihre Generation sind auch schon alle weg -nur der alte Baum steht noch da, wo er einmal gepflanzt worden ist. Und ich kann in Erinnerung an eine lebendige Kinderzeit draußen im Innenhof erzählen: vom Klettern, Spielen, Lachen, Zelten und Picknicken unter meiner Kastanie.

Regina Hoppe, 57, Winterhude