Die traditionsreiche Feier in den Vierlanden ist die größte im Norden. Die Veranstalter wollen mit modernisiertem Konzept 15.000 Besucher anlocken.

Hamburg. Weit geht der Blick über die Felder. Dazwischen: schmale Straßen, eigentlich für Pferdefuhrwerke gebaut; sie schlängeln sich neben 35 Meter langen Höfen und kleinen Einzelhäusern mit Puppenstubengärten über alte Deiche neben den Wasserläufen. Sattes Grün überall und eine himmlische Sicht, frei von Hochhäusern. So aufgeräumt präsentieren sich die Vier- und Marschlande, ein Bauernland, bekannt für Blumen und Gemüse - und eigentlich: weit weg vom städtischen Hamburg.

Das soll sich jetzt ändern. Das Vierländer Erntedankfest, das größte in Norddeutschland, wurde von steifer Tradition entschlackt, will "weltoffen" werden und Besucher aus der Stadt anlocken. Eine kleine Revolution, angezettelt von Frauen, die dazu einen Förderverein gründeten und zum ersten Mal das Fest gestalten, das bis zum Montag gefeiert wird. 12 000 Besucher kamen im vergangenen Jahr. Jetzt werden mehr als 15 000 erwartet.

Als erstes wurde die "Krähe" geopfert. So nennt man in den Vier- und Marschlanden die traditionelle, geflochtene Kopfbedeckung der Frauen, platt und gelblich wie ein Tortenboden und hinten mit einem rabenschwarzen Sichtschutz versehen, der "Krähe".

Traditionell wurden unter der Kopfbedeckung die zusammengesteckten Haare verborgen: Und damit man auch wirklich nichts Reizvolles an den Frauen sah, hatten sie die "Krähe" im Nacken. "Das wollen wir nicht mehr", sagt Marlis Clausen. Die Frauen geben also ihre traditionelle Rolle auf? "Ja", sagt die Vereinschefin nach kurzem Zögern. Das sei auch nicht schwer, denn Frauen hätten in den Vier- und Marschlanden immer "eine starke" Rolle gespielt. "Wir haben hier 1800 Selbstständige und 300 Handwerksbetriebe, da mussten die Frauen schon immer mitarbeiten", sagt Marlis Clausen. Die vier Männer im Förderverein Erntedankfest kümmern sich um die praktische Umsetzung des Festes.

Statt der "Krähe" trägt die Erntekönigin Lina von der Heide nun eine kleine Silberkrone. Die Tracht ist traditionell und der Stolz ihrer Großmutter Wilma Grube, die Trachten sammelt. Bei ihr hat sich die Erntekönigin das wichtigste Kleidungsstück geliehen: die Schürze mit dem in Silber gestickten Datum von 1861.

"Das ist etwas ganz Besonderes aus einem glänzenden Stoff, der nicht nass werden darf", sagt Lina von der Heide. Diese Schürzen trugen die Vierländerinnen nur zu wenigen Anlässen, beispielsweise zu einer Heirat oder zum Kirchgang. Und auch dort legten die Frauen die Schürzen nach dem Gottesdienst sofort ab. Man sieht es. Die 150 Jahre alte Schürze wirkt wie neu.

Ein schwarzer Rock, das Brusttuch, eine weiße Bluse, ein Halstuch mit Spange und schwarze Strümpfe gehören dazu. "Der Rock ist knöchellang, was damals als fast unzüchtig galt", sagt die Erntekönigin.

Der Radikalkur fiel noch mehr zum Opfer. "Früher saß die Erntekönigin steif auf einem Wagen und hat nur gewinkt", sagt Marlis Clausen. Jetzt werde sie aktiv und "eine Königin zum Anfassen". Lina von der Heide wird beim Umzug vom Wagen aus Bonbons in die Zuschauermenge werfen und Blumen verteilen. Das war früher nicht nur unzüchtig, sondern schlicht undenkbar. "Wir haben bei dem Umzug besonders an Kinder und Familien gedacht", sagt Marlis Clausen. "Wir wollen uns öffnen, junge Menschen ansprechen und alles werden, nur kein Museumsdorf."

Der Umzug am Sonntag ist groß: 1000 Akteure aus mehr als 50 Gruppen, Vereinen, Gewerken, Musikzügen und Chören fahren auf. Dazu: 100 Pferde, Bollerwagen, Tänzer, Sänger, Trachtengruppen, Kutschen und die Freiwilligen Feuerwehren - immerhin neun Stück! Sie alle gehen auf den 1,8 Kilometer langen Weg. Größte Attraktion sind jedoch die mit Blumen und Gemüse geschmückten Erntewagen.

"Wir wollen nicht nur mit Stolz zeigen, wer wir sind, sondern wollen auch neue Kontakte aufbauen", sagt die Erntekönigin. Das Motto ist in Bayern adaptiert: "Wir sind wir", und die bayerische Blasmusik ist mit dem Musikverein Fischach auch eingeladen.

Weitere Neuigkeiten sollen dazu beitragen: Der Frühschoppen am Montag gilt nicht der Vernichtung von Alkohol, sondern den schönen Erntewagen. "Fotografen werden ihre Freude haben, denn alle Wagen werden auf dem Spieker Markt stehen", sagt Marlis Clausen. Mehr noch: Die Frauen haben drei Moderatoren engagiert, die auf den Bühnen die Vereine und deren Leben in den Vier- und Marschlanden erklären.

Neu ist auch die Segnung der Erntekönigin am Sonntag in der schönen St.-Severini-Kirche in Kirchwerder und der Auftritt der Erntekönigin beim Festball am Sonnabend - nicht in Tracht, sondern in einem modernen Abendkleid, das extra genäht wird.

Der eingefleischte Städter, der gern von Coffee-to-go-Shops, Schaufenstern und Imbissketten umgeben ist, mag es vielleicht kaum glauben, was das Bauernland heute bietet und wo die Frauen ihr Hauptquartier haben: über einem Supermarkt in Neuengamme. Der Markt bietet fast 40 000 Artikel: ein Angebot, das mit Märkten in Metropolen konkurrieren kann. Man ist halt wer in den Vier- und Marschlanden, in "Hamburgs Garten".