An gesellschaftlichen Fehlentwicklungen sind nicht nur die Medien schuld.
Seit ein paar Jahren hat das Böse einen neuen Namen. Es heißt nicht mehr Teufel oder Beelzebub, sondern Internet. Hier werden unsere Kinder von Pädophilen verführt und unsere Konten beim Onlinebanking leer geräumt. Facebook greift unsere privatesten Daten ab. Wer nicht rechtzeitig sein Häuschen bei Google Street View verpixeln lässt, wird bestimmt schon bald Opfer eines Einbruchs.
Und nun auch das noch: Es ist noch gar nicht absehbar, wie viele der ersten Digital Natives, also der Angehörigen der Generation, die mit dem bösen Internet groß geworden ist, in einem "selbstbestimmten Erwachsenenleben" ankommen werden. Das meint der Psychiater Theodor te Wildt, der dem Fachverband Medienabhängigkeit vorsteht. Onlinesucht sei ein ernstes Problem, findet er. Das sehen die Autoren einer Studie mit dem etwas sperrigen Titel "Prävalenz der Internetabhängigkeit" ebenso. Laut der Untersuchung, über die auch das Abendblatt berichtete, gelten etwa 560 000 Menschen, die täglich mindestens vier Stunden online sind, als internetsüchtig. Weitere 2,5 Millionen sind demnach suchtgefährdet. Besonders betroffen seien Jugendliche im Alter von 14 bis 16 Jahren.
Nun lässt sich nicht bestreiten, dass es sozial verwahrloste Jugendliche gibt, die den ganzen Tag vor dem PC hocken. Aber die These, User, die mehr als vier Stunden am Tag online sind, seien internetsüchtig, ist schon ziemlich abenteuerlich. Bereits heute gibt es Berufsgruppen, unter ihnen auch Journalisten, die deutlich länger als vier Stunden täglich im Netz unterwegs sind. Davon, dass bei ihnen die sogenannte Online-Sucht besonders weit verbreitet wäre, ist nichts bekannt.
Den Verfassern der Studie geht es in erster Linie ja auch um Jugendliche und hier vor allem um die 14- bis 16-Jährigen. Diesen Lebensabschnitt nennt man gemeinhin Pubertät. Und in ihr sind Jugendliche zu jedem Blödsinn bereit: Sie hängen stundenlang vor Online-Ballerspielen ab oder jagen, ganz real, mit gehorteten Knallkörpern den Briefkasten des Nachbarn in die Luft. Zum Glück ist die Pubertät aber irgendwann vorbei.
Natürlich gibt es auch Menschen, denen jeder soziale Halt fehlt. Sie können tatsächlich online verloren gehen. Aber ist das die Schuld des Internets? In der Regel ist im Leben dieser Menschen irgendetwas vorgefallen, was dazu geführt hat, dass sie andere meiden. Lebten sie im 18. Jahrhundert, würden sie sich vielleicht in die Welt der damals sehr populären Ritter- und Schauerromane flüchten. Ihre Lektüre galt Medizinern seinerzeit allen Ernstes als hirnerweichend.
Gesellschaftliche Fehlentwicklungen werden traditionell gern den Medien in die Schuhe geschoben. So galt Anfang der 70er-Jahre manchem Pädagogen "Schweinchen Dick" als gewaltverherrlichend und deshalb für Kinder als ungeeignet. Schließlich stellte der Kojote in der Comicserie dem Road Runner mit Dynamit und Kanonen nach. Im Fall des Internets kommt erschwerend hinzu, dass insbesondere ältere Menschen es nicht verstehen, was ja auch nicht einfach ist. Seine Einführung bedeutet schließlich den größten Medienbruch seit der Erfindung des Buchdrucks. Verständlich, dass dies manchem Angst macht. Dabei sind die Gefahren, die online lauern, keineswegs größer als die der Offline-Welt.
Es gibt also überhaupt keinen Grund, das Internet zu verteufeln. Vor allem ist es völlig sinnlos. Denn die digitale Welt wird nicht verschwinden. Ganz im Gegenteil: Sie wird sich auf immer mehr Bereiche unseres Lebens erstrecken. Schon heute lässt sich absehen, dass wir alle - vom Kind bis zum Greis - via PC, Smartphone oder Tablet-PC länger als vier Stunden täglich online sein werden. Vor diesem Hintergrund sollten wir mit dem Begriff "Online-Sucht" sehr, sehr sorgsam umgehen.
Der Autor ist Abendblatt-Medien-Redakteur und gemeinsam mit seinem Bruder Tim Renner Verfasser des Buches "Digital ist besser"