Da war dieses verdächtige Ruckeln. Die Ahnung, dass die Hinterachse seines Lastwagens irgendwie hängen geblieben war. Dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung ist. Holger H. hat sich nicht die Zeit genommen, nachzudenken, nicht versucht, sich irgendwie für die Situation wappnen zu wollen, die ihm da möglicherweise bevorstand. Er habe "sofort angehalten und geguckt, was los ist", sagt der Mann. Was er sah, hat dem 40-Jährigen einen schweren Schock versetzt. Blut, sehr viel Blut. Und eine aufs Schwerste verletzte Frau, deren Leben nicht mehr zu retten war.

Fast acht Monate sind seit dem tödlichen Unfall in Hoheluft vergangen, als der Mulden-Lkw von Holger H. die Radfahrerin Kirsten T. erfasste. Doch die Erinnerung lastet noch deutlich sichtbar auf dem Hamburger, die furchtbaren Bilder.

Zusammengesunken sitzt der kräftig gebaute Mann da, wenn er von den albtraumhaften Erlebnissen von damals erzählt, mit leiser Stimme, wie erschöpft. "Es tut mir sehr leid, was da passiert ist", sagt Holger H. im Prozess vor dem Amtsgericht, wo er sich wegen fahrlässiger Tötung verantworten muss.

Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, am 17. Januar dieses Jahres beim Abbiegen nach rechts in eine Straße "infolge von Unachtsamkeit" die Radfahrerin mit seinem Lkw überrollt zu haben.

"Ich passe bei Radfahrern eigentlich immer besonders auf", verteidigt sich Holger H., seit mehr als 20 Jahren im Besitz eines Lkw-Führerscheins. Er habe an einer roten Ampel zunächst gehalten, um dann bei Grün in insgesamt drei Fahrzeugspiegel sowie aus dem Seitenfenster zu schauen und sich zu versichern, dass er gefahrlos abbiegen könne. "Dazu kam noch der Schulterblick." Dass er die 45-Jährige gleichwohl nicht wahrnahm und mit seinem 25-Tonner erfasste, ist ihm noch immer ein Rätsel. "Ich weiß nicht, wie das passieren konnte."

Doch ein anderer hat das Unheil kommen sehen. Er habe den Mulden-Lkw beobachtet, der rechts geblinkt hat, und daneben die Radfahrerin, die geradeaus weiterfahren wollte. Diese habe noch eine Geste in Richtung des Lkw-Fahrers gemacht in dem Sinne: Bitte nicht Vorfahrt nehmen. "Meine erste Reaktion war: Hoffentlich sehen die sich. Aber im nächsten Moment gab es schon die Kollision. Sie wurde von der Vorderachse und beiden Hinterachsen überrollt." Der Lkw sei langsam gefahren, die Radlerin eher schnell. "Es war ja ihr Recht, geradeaus zu fahren", stellt der Zeuge fest. Er selber, auch oft mit dem Rad im Straßenverkehr unterwegs, habe aus dem Unfall seine Lehren gezogen. Er sei früher "geneigt gewesen, das Recht auf Vorfahrt durchzusetzen. Aber das hat sich seitdem geändert. Ich fahre jetzt defensiver."

Andere Zeugen erinnern sich vor allem an das Opfer, wie die Frau dalag, mit schwersten Verletzungen. Er habe seinerzeit Erste Hilfe geleistet, sagt ein Student, der den folgenschweren Unfall aus einem Bus heraus beobachtet hatte. "Ich habe ihr zugeredet", erzählt der 22-Jährige. "Ich sagte, dass der Krankenwagen gleich kommt und alles gut wird. Aber sie war nicht mehr ansprechbar." Und ein anderer Mann schildert, noch immer sichtlich erschüttert, "das viele Blut, die schrecklichen Bilder. Ich war richtig geschockt".

Doch es ist die Aussage einer Schülerin, die ebenfalls mit dem Fahrrad unterwegs war, die dem Prozess die entscheidende Wendung gibt. Sie und das spätere Opfer hätten sich wenige Augenblicke vor dem Unfall "sogar noch angeguckt", sagt die 17-Jährige. Die Frau habe rechts neben dem Lkw gestanden, "etwa so weit entfernt", erklärt sie und deutet mit ihren Armen eine Distanz an, die ein bis anderthalb Meter beträgt.

Dieses Detail ist es, das für das Gutachten des Sachverständigen den wichtigsten Hinweis gibt. Er habe den Unfall nachstellen lassen, sagt der Ingenieur im Prozess. "In allen Positionen war die Radfahrerin erkennbar, teils durch die Spiegel, teils durch die Seitenscheibe", teilt der Sachverständige mit. Allein die Aussage der Schülerin ergebe ein vollständig anderes Bild. "Dann war das Opfer außerhalb des Sichtbereichs", ein Unfall für den Lkw-Fahrer nicht vermeidbar.

Und so sind sich Staatsanwältin, Verteidiger und schließlich auch der Amtsrichter in seinem Urteil einig: Der Angeklagte muss freigesprochen werden. "Es war ein Unfall, wie er letztlich jedem von uns passieren kann", resümiert der Richter, sowohl als Fahrer als auch als Opfer.

Er habe verinnerlicht, so der Richter, "dass ich mich nicht im Ansatz verhalten würde wie die Radfahrerin" und sein Recht auf Vorfahrt durchzusetzen versuchen würde. Bei Fahrzeugen von der Größe des Lkw sei es eben nicht sicher, "dass man alles im Blick haben kann. Es gibt einen toten Winkel, und wir müssen zu Ihren Gunsten unterstellen, dass die Radfahrerin nicht zu sehen war", erklärt er dem Angeklagten Holger H.

"Was sich ereignet hat, war ganz fürchterlich, aber nicht von Ihnen zu verantworten."